"Islamismusvorwürfe gegen die AKP sind realitätsfremd"
Spätestens seit den Vorfällen um die Gaza-Solidaritätsflotte ist der Ton zwischen der Türkei und Israel rauer geworden. Erdogan selbst sprach davon, dass nichts mehr so sein wird wie bisher. Wird es ihrer Einschätzung nach zu einem echten, tief greifenden Bruch in den Beziehungen beider Länder kommen?
Gerhard Schweizer: Die Türkei ist der einzige muslimische Staat, der sowohl zur arabischen Welt als auch zu Israel enge Kontakte pflegt. Die Regierung Erdogan führt diese Tradition der türkischen Politik fort. Allerdings legten die meisten türkischen Regierungen das Schwergewicht auf die wirtschaftliche und politische Bindung an den Westen, entsprechend trugen sie ohne Einschränkung auch die israelfreundliche Politik des Westens mit.
Erdogan dagegen verstärkte die Kontakte zu den bisher nicht im gleichen Maß beachteten muslimischen Nachbarstaaten. Gleichzeitig erklärte er aber die Beziehungen zu Israel für weiterhin unverzichtbar. Die fortgesetzte Lieferung von Trinkwasser an Israel im Austausch für technisches Know-how für militärische Aktionen sowie Entwicklungsprojekte passt zu dieser Strategie.
Jedoch hat Erdogan stets betont, dass die "guten Beziehungen zu Israel" ihn nicht daran hinderten, gegenüber Israels Palästina-Politik eine kritische Haltung einzunehmen. Die scharfe Kritik an Israels Krieg in Gaza 2009 wie auch jetzt die Unterstützung der Gaza-Solidaritätsflotte ist ein Ausdruck dieser Politik. Erdogan versucht hier einen Drahtseilakt: Er benutzt die vehemente Kritik an Israel, um den türkischen Einfluss im islamischen Raum ausweiten, will aber trotzdem die Beziehung zum Westen und Israel weiter pflegen, denn die Türkei ist auf diese wirtschaftliche Beziehung angewiesen.
In Ihrem Buch "Die Türkei – Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus" zitieren sie den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül mit den Worten: "Lieber Führungsnation in der islamischen Welt als Schlusslicht des Westens!" Verbirgt sich hinter diesen Worten ein Paradigmenwechsel der türkischen Außenpolitik, eine Abkehr der Türkei vom Westen, von der EU hin zu seinen östlichen Nachbarn?
Schweizer: Staatspräsident Abdullah Gül gilt als ein entschiedener Befürworter eines Beitritts der Türkei zur EU. Diese Haltung hat er ja überzeugend als ehemaliger Außenminister bewiesen. Aus seinen Worten spricht eine gewisse Enttäuschung, dass viele europäische Staaten die Beitrittsverhandlungen verzögern, ja manche gar blockieren; Deutschland unter Angela Merkel und Frankreich unter Nicolas Sarkozy spielen hier eine ambivalente Rolle. Doch das Stocken in den Beitrittsverhandlungen ist nicht die eigentliche Ursache, dass die Türkei nun verstärkt im islamischen Raum an Einfluss gewinnen will. Erst recht vollzieht sich keine völlige Abkehr vom Westen.
Erdogan versucht – wie kein anderer türkischer Ministerpräsident vor ihm – den strategischen Wert zu nutzen, als einziges muslimisches Land sowohl enge Beziehungen zu westlichen Staaten und Israel einerseits sowie zu arabischen Staaten und dem Iran andererseits zu pflegen. Dies verschafft der Türkei die Chance, als Vermittlerin sowohl zwischen Syrien und Israel als auch zwischen dem Iran und den USA zu wirken.
Dass dieses Bemühen bisher nur wenig bleibenden Erfolg hatte, liegt nicht nur am teilweise undiplomatischen, ja ungeschickten Verhalten der Türkei, sondern ebenso an politischen Fehlern anderer im Konflikt involvierter Staaten. Man kann aus dem bisherigen Scheitern der Vermittlungsbemühungen allerdings auch folgern, dass die Türkei ihre Möglichkeiten zur Einflussnahme überschätzt.
Die türkische Regierung unter Erdogan zeigte zuletzt sehr deutlich ihr Interesse an einer verstärkten politischen Einflussnahme auf die Region des Mittleren Ostens. Wie reagieren die arabischen Staaten und Iran auf das türkische Dominanzstreben?
Schweizer: Die arabischen Staaten wie auch der Iran beobachten das wachsende Engagement der Türkei im islamischen Raum mit gemischten Gefühlen. Zum einen begrüßen sie, dass die Türkei mit ihrer bisher strikten Bindung an den Westen nun auch Kontakte zu östlichen – vom Westen misstrauisch beobachteten – Nachbarstaaten sucht und diese Staaten damit international aufwertet. Zum andern aber sind die Beziehungen historisch schwer belastet.
Die Araber erinnern sich nur zu gut an die letztendlich drückende Fremdherrschaft der Osmanen, und die Iraner denken an die erbitterten Kriege mit den Osmanen um die Vorherrschaft im Irak und Aserbeidschan. Das Misstrauen von Arabern und Iranern gegen die aufstrebende Regionalmacht Türkei ist daher groß. Die untergründigen Spannungen könnten zu offenen Konflikten ausarten, falls durch einen Machtzuwachs der Türkei andere Mächte im Nahen und Mittleren Osten ihren Einfluss gefährdet sähen.
Sie selbst attestierten vor zwei Jahren in ihrem Buch Erdogan eine Politik des Pragmatismus: Gilt diese Einschätzung immer noch?
Schweizer: Meine Einschätzung gilt immer noch. Es wäre völlig falsch zu glauben, die stärkere politische Öffnung der Türkei zu den muslimischen Nachbarstaaten sei von religiösen Motiven bestimmt. Nicht die gemeinsame Religion führt die muslimischen Staaten zur größeren Annäherung, sondern gemeinsame strategische Interessen.
Durch die politische Öffnung ist der Wert der türkischen Wirtschaftsexporte in den Mittleren Osten zwischen den Jahren 2000 und 2008 von rund 2,8 Milliarden Dollar auf nahezu 26 Milliarden Dollar gestiegen, der Wert hat sich damit fast verzehnfacht. Die Türkei strebt an, über die Nabucco-Pipeline zur wirtschaftlichen Drehscheibe des Erdöl- und Erdgasexportes zwischen den Golfstaaten, dem Iran, Zentralasien und den Verbrauchern in Europa zu werden. Um dies zu erreichen, muss die Türkei gleichermaßen gute Beziehungen zu den muslimischen Nachbarstaaten und zum Westen unterhalten.
Aber nicht nur die Türkei handelt hier pragmatisch, sondern ebenso der Iran, für den es aus rein religiöser Sicht unmöglich wäre, ein engeres Bündnis mit den Türken zu schließen. In diesem Zusammenhang darf ich daran erinnern, dass zu Beginn der achtziger Jahre der fundamentalistische Gottesstaat Iran mit dem säkularen Syrien aus bloß strategischen Erwägungen heraus ebenfalls ein, bis heute dauerhaftes, Bündnis schloss.
Die AKP regiert seit fast acht Jahren und ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist weiterhin sehr groß. Dennoch gibt es innerhalb und außerhalb der Türkei viele kritische Stimmen, die der AKP vorwerfen, die Türkei in einen islamistischen Staat umwandeln zu wollen. Sind diese Befürchtungen gerechtfertigt?
Schweizer: Der Vorwurf, die AKP strebe in der Türkei einen islamistischen Staat an, ist realitätsfremd. Erdogan hat zwar islamistische Wurzeln, denn sein politischer Ziehvater Erbakan war Islamist. Aber Erdogan kam gerade dadurch zum großen Wahlerfolg und zu seiner späteren Popularität, dass er mit dem Versprechen angetreten war, Islam und säkulare Moderne zu versöhnen und den intoleranten Nationalismus durch eine konsequente Weiterentwicklung der Demokratie zu überwinden.
Es gehört zu den Paradoxien der türkischen Politik: Inzwischen plädieren nicht die strikt säkular an Atatürk orientierten Parteien am entschiedensten für die Erweiterung der demokratischen Rechte. Vielmehr setzt sich heute die "islamisch-säkulare" AKP am stärksten für Reformen ein, die den Weg in die EU ebnen sollen. Dass Erdogan aber andererseits selbst immer wieder zu autoritärem Verhalten neigt und von den propagierten Zielen abweicht – dies hat er mit den meisten seiner säkularen Gegner gemeinsam.
Was fehlt der Türkei auf dem Weg zu einer Konsolidierung hin zu einer Demokratie, die auch EU-Standards erfüllen würde?
Schweizer: Im Vergleich zu den muslimischen Nachbarstaaten ist die Türkei schon heute relativ demokratisch. Es existiert eine parlamentarische Demokratie, Parteien können abgewählt werden. Aber es fehlt eine konsequente Teilung der Gewalten. Der Nationale Sicherheitsrat, der stark vom Militär kontrolliert wird, kann nahezu diktatorisch entscheiden, ob eine Partei "verfassungskonform" handelt oder nicht. Das Verfassungsgericht ist eng mit diesem Sicherheitsrat verbunden. Legitimiert durch den Sicherheitsrat hat das Militär schon dreimal geputscht und Regierungen gestürzt: Dies geschah 1960, 1971 und 1980. Im Jahr 1997 genügte eine Drohung, um den damaligen Premierminister Erbakan zum Rücktritt zu zwingen.
Verhängnisvoll ist diese Instanz vor allem deshalb, weil sie strikt einem intoleranten Nationalismus huldigt und somit diktatorisch auch eine liberale Reformpolitik gegenüber ethnischen Minderheiten, etwa Kurden, Armeniern, Griechen, blockieren kann. Erdogan hat zwar Versuche eingeleitet, die Macht dieser Instanz zu brechen, aber noch ist es zu keiner wirklichen Strukturreform gekommen.
Das Kurdenproblem ist einer der langwierigsten innenpolitischen Konflikte in der Türkei. Trotz der von der AKP angestoßenen Reformversuche entflammte die Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat und der PKK zuletzt aufs Neue. Wie sehen Sie die Chancen eines echten Ausgleichs zwischen der türkischen Regierung unter Erdogan und den Kurden?
Schweizer: Ich kann hier auf das von mir erwähnte Beispiel zurückkommen, dass der Nationale Sicherheitsrat und das Verfassungsgericht ideologisch von intolerantem Nationalismus bestimmt sind. Im Dezember 2009 sprach das Verfassungsgericht ein Verbot gegen die kurdische Partei DTP aus – mit der offiziellen Begründung, diese Partei hege Sympathien für die PKK. Damit war den Kurden die einzige demokratisch gewählte Interessenvertretung genommen, eine Partei, in der zwar auch politische Falken vertreten sind, aber ebenso politische Tauben mit Bereitschaft zu Dialog und Kompromiss.
Entscheidend ist: Das Verbot blockiert auch die Reformbestrebungen der AKP. Kein anderer türkischer Ministerpräsident hat bisher so entschieden wie Erdogan versucht, den Kurden zumindest eine kulturelle Autonomie zu verschaffen. Nun war ihm der maßgebende politische Ansprechpartner genommen. Vor diesem Hintergrund müssen wir die erneuten militärischen Aktivitäten der PKK verstehen. Die Hardliner fühlen sich bestätigt, dass ein friedlicher demokratischer Prozess der Evolution unmöglich erscheint. Gerade am Dauerkonflikt des Kurdenproblems können wir sehen, wie dringend es wäre, die Demokratie in der Türkei zu einer Demokratie nach westlichem Muster weiter zu entwickeln.
Interview: Christian Horbach
© Qantara.de 2010
Gerhard Schweizer promovierte in Empirischer Kulturwissenschaft und arbeitet seit vielen Jahren als freier Schriftsteller. Er ist Autor mehrerer Bücher über die islamische Welt, darunter Portraits über Syrien und Iran.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
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