"Die Toleranz als solche bewegt noch nichts"

Die Toleranz als solche steigert nicht die Kenntnis über die Werte des anderen, so Hans Joas vom Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien. Mit ihm sprach Volker Maria Neuman über die Logik der Kommunikation von Werten, den Nahostkonflikt sowie über den Kampf der Kulturen.

Hans Joas (photo: Verlag Velbrück Wissenschaft)
Hans Joas: "Christliche Araber im Gaza-Streifen fühlen sich von Israel genauso unterdrückt wie muslimische. Der Konflikt in seiner 'Reinform' ist kein religiös motivierter."

​​Sie untersuchen unter anderem Religion als "Deutungs- und Steuerungsmacht" in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften. Was muss man sich darunter vorstellen?

Hans Joas: Hinter der Formulierung steckt Max Weber, der vor allem mit seinen Arbeiten über die protestantische Ethik und den "Geist des Kapitalismus" berühmt wurde. Für das Kolleg speziell lässt sich hieraus dreierlei ableiten: Erstens: Welche Rolle spielt Religion für Modernisierungsprozesse?

Zweitens: Wie wird die Religion selbst verändert im Zusammenhang mit Modernisierungsprozessen? Und drittens: Inwiefern steckt in Religion auch ein Potenzial zur Kritik und Korrektur von Modernisierungsprozessen? Religion als Triebkraft, als Gegenstand und als Instanz zur Regulierung von Modernisierungsprozessen – in diesen drei Hinsichten ist der Weber'sche Ausdruck konkret für unsere Arbeit zu fassen.

Vor dem Hintergrund der Möglichkeit, dass Religion gesellschaftliche Modernisierungsprozesse beeinflussen kann, wie beurteilen Sie den heutigen Konflikt zwischen der islamischen Kultur arabischer Länder und dem vorwiegend christlich geprägten Europa und Amerika? Ist dies überhaupt ein religiöser Konflikt oder nicht überwiegend ein sozialer und politischer?

Joas: In Ihrer Frage klingt es schon an. Ich selbst bin tatsächlich einer derjenigen, die äußerst skeptisch sind gegenüber der Beschreibung der gegenwärtigen Konflikte im Nahen Osten in hauptsächlich religiösen Kategorien. Ich rufe gerne in Erinnerung, dass es auf der arabischen Seite im Nahostkonflikt auch schon eine arabisch-nationalistische und eine quasi marxistische Pointierung in der Vergangenheit gegeben hat.

Dass sowohl unter den Palästinensern als auch in den Anrainerstaaten Israels Intellektuelle und Politiker die verschiedensten Ideologien herangezogen haben, um eigene Interessen zu artikulieren. Und zwar eindeutig machtpolitische Interessen. Es wäre abstrus, das nicht mitzusehen, wenn man die heutigen Konflikte dort, die so stark mit einer islamistischen Ideologie aufgeladen werden, analysieren will.

Ich glaube, man muss begreifen, was in diesem Konflikt zu einer Selbstauslegung des Konflikts in religiösen Kategorien führt. Man darf nicht einfach die religiösen Kategorien für den Ursprung halten.

Zentrale Protagonisten des Konflikts argumentieren aber religiös. Muss man da nicht aus der Religion heraus um Gegenargumente bemüht sein?

Joas: Natürlich, die Analyse darf das nicht außer Acht lassen, dass Religion den Konflikt gleichsam zusätzlich auflädt. Man darf nur nicht der Argumentation jener Protagonisten auf den Leim gehen, indem unterschwellig anerkannt wird, es handele sich um einen genuin religiösen Konflikt.

Christliche Araber im Gaza-Streifen fühlen sich von Israel genauso unterdrückt wie muslimische. Der Konflikt in seiner "Reinform" ist kein religiös motivierter.

Auf der Liste der Themenschwerpunkte des Kollegs steht an oberster Stelle: "Gewalt und Menschenwürde". Sie untersuchen gezielt unseren Glauben an eine "universale Menschenwürde" und führen aus, dass dieser Glaube nicht nur aus positiven, sondern auch aus negativen Erfahrungen erwachsen kann. Welches sind hierfür die bekanntesten Beispiele aus der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts?

Joas: Die internationalen Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert, der sogenannte Abolitionismus vor allem in Großbritannien und in den USA. Die Forschung darüber ist ein ganz zentraler Bereich beim Thema Gewalt und Menschenwürde. Dann die erste große Menschenrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts, diejenige nämlich, die sich auf Belgisch-Kongo bezogen hat, weil dort zum Teil unter heuchlerischer Ausnutzung der Parole "Kampf der Sklaverei" grauenvolle Formen von Zwangsarbeit usw. praktiziert wurden, mithin eine andere Form von Sklaverei.

Der Widerstand dagegen hat im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu einer großen Pro-Menschenrechtsbewegung geführt. Außerdem sind dabei natürlich zu nennen die beiden großen Themen nach dem Zweiten Weltkrieg: der Holocaust und der Gulag, und die Frage der Konsequenzen für das Thema Menschenwürde.

Gesellschaftliche Normen und Werte im Allgemeinen müssen diskutier- und vermittelbar sein, um Gegenstand eines nützlichen Diskurses sein zu können. Sie bemühen sich um eine entsprechende Theorie über die Kommunikation von Werten. Welche spezifischen Eigenschaften muss eine solche Theorie aufweisen?

Joas: Mir liegt an einer vernünftigen Kommunikation über differierende Werte. Ich glaube aber nicht, dass diese im anspruchsvollsten Sinn zu einem rationalen Diskurs im anspruchsvollen Habermas'schen Sinne werden kann. Jürgen Habermas entwarf die Theorie eines rationalen Diskurses, dessen Ziel jeweils sozusagen eine vernünftige Einigung aller Teilnehmer des Diskurses sein soll. Dies lässt sich meines Erachtens sinnvoll anwenden auf den wissenschaftlichen Diskurs und bestimmte Teile einer politischen Diskussion.

Aber nicht auf das Feld des interreligiösen Dialogs und das vernünftige Gespräch über fundamentale Wertdivergenzen. Wir können in den interreligiösen Dialog nicht mit der Absicht der Einigung eintreten. Ein Beispiel: Der christlich-jüdische Dialog kann nicht geleitet sein von der Vorstellung, dass am Ende des Gesprächs die Konversion der Christen zum Judentum oder der Juden zum Christentum steht.

Es gibt das vernünftige Gespräch über Werte, dessen Ziel es ist, einzig das Verständnis der einen Seite für die Wertbindung der anderen Seite auszubauen. Und umgekehrt.

Mit einem Wort: Toleranz.

Joas: Toleranz ist dabei zwar ein Teil, natürlich, aber Toleranz muss nicht unbedingt ein wirkliches Interesse an den Werten des anderen bedeuten. Die Toleranz als solche bewegt noch nichts, sie steigert nicht die Kenntnis über die Werte des anderen. Rein aus dem Motiv der Toleranz heraus haben Sie noch keine Veranlassung, den anderen in seinen Wertbindungen wirklich verstehen zu wollen.

Liegt dies vielleicht auch daran, dass Religion ein nicht-rationales Moment als Voraussetzung für ein Verständnis ihrer selbst beinhaltet, nämlich den Glauben?

Joas: Das ist zwar richtig, Religion beruht nicht einfach nur auf rationalen Argumenten. Ich behaupte allerdings, dass das für alle Wertesysteme gilt. Nehmen wir doch das Beispiel Jürgen Habermas: Seine intensive Bindung an das Wertesystem Demokratie hat etwas mit seinen persönlichen Erfahrungen im Nationalsozialismus zu tun. Dies ist eine hochgradig emotional geladene biographische Erfahrung, die kein rationales Argument ist.

Auch Leute also, die sich an ein säkulares Deutungssystem – z.B. die Aufklärung, den Marxismus, die Rassentheorie oder was auch immer – gebunden fühlen, sind gebunden nicht allein aufgrund rationaler Überzeugungsargumente.

Läge es in der Möglichkeit einer solchen Theorie über die Werte-Kommunikation, die Entstehung von Werten im gesamt-gesellschaftlichen Diskurs mitzugestalten?

Joas: Das will ich hoffen! Hier am Kolleg versuchen wir ja, über den rein wissenschaftlichen Diskurs hinaus, auf interreligiöse Dialoge Bezug zu nehmen. So soll zum Beispiel eine gegenwärtige Untersuchung über theologische Gewaltlegitimation und Gewaltlosigkeitslegitimation in verschiedenen Religionen in den Religionsunterricht gewissermaßen wieder zurückfließen.

So ist die Arbeit einerseits zwar hoch abstrakt – die Logik der Kommunikation über Werte –, sie hat aber sehr wohl ganz konkrete Anwendungsinteressen.

Interview: Volker Maria Neuman

© Goethe-Institut 2006

Hans Joas promovierte 1979 an der Freien Universität Berlin und arbeitete dann am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Zwischen 1987 und 1990 war er Professor am Institut für Soziologie der Universität Erlangen-Nürnberg, seit 1990 wieder in Berlin. Seit 2002 ist er Dekan des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt. Er lehrt außerdem regelmäßig an der University of Chicago.

Qantara.de

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