Jenseits der Autorität der Religion und der Herrschaft der Familienclans

Der libanesische Analyst und Meinungsmacher Hazem Saghieh zählt zu den wichtigsten liberalen Stimmen in der arabischen Welt. In seinem soeben erschienenen Buch analysiert er die Gründe für das bisherige Scheitern einer demokratischen Modernisierung in der arabischen Welt. Darüber hat sich Rachid Boutayeb mit ihm unterhalten.

Von Rachid Boutayeb

Herr Saghieh, Ihr aktuelles Buch "Tödliche Fragen" beginnt mit einer fundierten Analyse der drei bekannten totalitären Regimes: Nationalsozialismus, Kommunismus und Baathismus. Sie versuchen darin, die Besonderheiten des nicht-europäischen Totalitarismus am Beispiel des Iraks hervorzuheben. Woher rührt Ihr Interesse an der irakischen Erfahrung?

Hazem Saghieh: Ich habe mich nach dem Sturz der Baath-Herrschaft im Irak im Jahr 2003 mit der Diktatur beschäftigt, weil mir dieses Beispiel besonders lehrreich erschien. Denn der irakische Totalitarismustypus unter Saddam Hussein steht exemplarisch für totalitäre Herrschaftsformen in der arabischen und in der Dritten Welt insgesamt.

Darüber hinaus hat man es im Fall des Iraks mit einer Gesellschaft zu tun, die aus verschiedenen ethnischen Gruppen, Konfessionen und Religionen besteht. Aber dieses Land hat für mich auch eine persönliche Bedeutung, da ich in London viele Iraker getroffen habe und Zeuge vieler persönlicher und familiärer Tragödien geworden bin.

Haben Sie vor dem Hintergrund des Umbruchs in der arabischen Welt Angst vor einer Rückkehr einer totalitären Herrschaftsform – dieses Mal möglicherweise im religiösen Gewand?

Saghieh: Ich kann nicht ausschließen, dass es in einem arabischen Land zu einer neuen Form totalitärer Herrschaft im religiösen Gewand kommen könnte, vor allem angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in einigen arabischen Ländern.

Der Tahrir-Platz in Kairo nach Mubaraks Rücktrittsrede im Fernsehen; Foto: EPA
Sehnsucht nach Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit: "Wenn sich die religiösen Parteien, die durch demokratische Wahlen in den postrevolutionären arabischen Staaten an die Macht gekommen sind, auch an die demokratischen Spielregeln halten, dann wären wir einen großen Schritt in Richtung Demokratisierung weiter", schreibt Saghieh.

​​Es gibt jedoch einige "Garantien" bzw. Gründe, die gegen diese Möglichkeit sprechen, nämlich das Interesse der arabischen Staaten im Umbruch an wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit der westlichen Welt, da diese die neuen Machteliten in eine andere, politisch offenere Richtung führen.

Außerdem: Die neuen Jugendproteste und Aufstände in der arabischen Welt stellen einen epochalen Bruch mit den vormals als heilig deklarierten Autoritäten in diesem Raum dar. Wenn sich die religiösen Parteien, die durch demokratische Wahlen in den postrevolutionären arabischen Staaten an die Macht gekommen sind, auch an die demokratischen Spielregeln halten, dann wären wir einen großen Schritt in Richtung Demokratisierung weiter.

Doch die arabischen Republiken und Monarchien stützen sich bislang ja vor allem auf familiäre Bindungen und pflegen eine ausgeprägte Stammeskultur, die jede Form moderner Partizipation behindert.

Saghieh: Ja, Sie haben Recht, was die Rolle der tribalen Zugehörigkeit angeht. Aber wir dürfen eines nicht vergessen: Die konservativen arabischen Monarchien haben noch eine andere, traditionelle Legitimationsbasis. Und einige dieser Monarchien, besonders die in der Golfregion, besitzen aufgrund ihrer Ölressourcen die Fähigkeit, gesellschaftliche Loyalitäten zu erkaufen. Somit haben diese Herrschaften mit den totalitären Regimes im modernen und ideologischen Sinne wenig zu tun. Vielmehr stellen sie eine orientalische und primitive Form des Despotismus dar.

Sie sprechen in Ihrem aktuellen Buch von einem "armen" und einem "reichen" Islam. Der erste ist fundamentalistisch und der zweite pluralistisch ausgeprägt. Außerdem sehen Sie Parallelen zwischen dem Faschismus und dem radikalen Fundamentalismus. Ist das nicht eine kulturalistische Sicht, die ausblendet, dass der "arme" Islam vor allem ein Kind der sozioökonomischen Krise ist?

Saghieh: Vielleicht ist das kulturalistisch betrachtet, aber können wir ernsthaft bestreiten, dass der "arme" Islam populistische Bewegungen und demagogische Führer wie den iranischen Revolutionsführer Khomeini und den islamistischen Wegbereiter Sayyid Qutb in Ägypten hervorbrachten, die tiefgreifende Reformen im religiösen oder gesellschaftlichen Bereich blockiert haben?

Protest von Jugendlichen in Beirut; Foto:©  Dareen Al Omari
Blockierte Demokratie: Im Libanon verhindern sowohl das komplizierte konfessionelle Proporzsystem in Staat und Gesellschaft als auch die anhaltenden Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten eine demokratische Transition des Zedernstaates.

​​Der Islam des "Makhzen", also des Netzwerks der königstreuen Elite in Marokko, bleibt – bei aller berechtigten Kritik – im Vergleich zu allen radikalen oder "sozialrevolutionären" Variationen des Islam toleranter und fortschrittlicher.

In Ihren Analysen kritisieren Sie auch die Golfstaaten und nehmen beispielsweise eine Art Dekonstruktion der kulturellen, psychologischen und politischen Dimensionen der gigantischen "Turmpolitik" in Dubai vor. Können diese gigantischen Bauten ein Parlament ersetzen, wie die Machthaber am Golf glauben?

Saghieh: Natürlich nicht. Ich denke nicht, dass die gigantischen Türme in Dubai – im Gegensatz zum Parlament – den Weg in eine demokratische Moderne ebnen können. Ich glaube, dass man vielmehr die Grundlagen für eine zivile Gesellschaft schaffen sollte, jenseits der Autorität der Religion und der Logik des Familienclans. Die materielle und architektonische Modernisierung an sich könnte diese alten, vormodernen Strukturen sogar weiter fördern.

Das letzte Kapitel Ihres Buches behandelt die politische Lage in ihrem Heimatland, dem Libanon. Darin stellen Sie fest, dass der Libanon den Weg in eine pluralische Demokratie verpasst hat. Bedeutet dies, dass der Konfessionalismus im heutigen Libanon jegliche künftige demokratische Entwicklung im Keim ersticken wird?

Saghieh: Es steht fest, dass die Konfessionen und das Sektierertum die Machtfrage im Land bestimmen. Und das geschieht in einer Region, die heutzutage eine Wiedergeburt der Religion und der engstirnigen Identitäten erlebt.

Dies scheint unvermeidlich. Vor allem deshalb, weil diese Rückkehr der Religionen von einer sehr gefährlichen Polarisierung zwischen Sunniten und Schiiten geprägt ist. Ein Konflikt, der gewaltig ist und große Teile der islamischen Welt zu zerstören droht – und von der das kleine Land wohl nicht verschont bleiben dürfte.

Interview: Rachid Boutayeb

Übersetzung aus dem Arabischen von Rachid Boutayeb

© Qantara.de 2012

Hazem Saghieh ist bekannter politischer Analyst und Meinungsredakteur von "Al Hayat", der führenden panarabischen Zeitung.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de