"Auf Korankritik reagieren viele Muslime hysterisch"
Ibn Warraq, warum veröffentlichen Sie unter Pseudonym?
Ibn Warraq: Ich muss vorsichtig sein, ich stehe auf mehreren Todeslisten. Und ich will diejenigen in meiner Familie nicht verärgern, die Muslime sind. Sie wissen nicht, dass ich all diese Bücher geschrieben habe. Da ich jetzt aber auch zunehmend in der Öffentlichkeit spreche, wird mich eines Tages natürlich jemand erkennen.
Warum stehen Sie auf Todeslisten?
Ibn Warraq: Weil ich Korankritik betreibe. Weil ich den Islam kritisiere und die wörtliche Auslegung des Koran. Dazu kommt: Ich bin kein Muslim mehr, sondern Atheist. Abkehr vom Glauben kann mit dem Tode bestraft werden. Im Sudan und im Iran ist das in den vergangenen Jahren geschehen.
Wenn Sie deswegen bedroht werden: Sind denn so viele Muslime so intolerant?
Ibn Warraq: Es gibt natürlich auch gemäßigte, tolerante Muslime. Am tolerantesten sind die weniger gebildeten, die nicht genau wissen, was im Koran steht, weil sie das schwierige Arabisch nicht lesen können. Intoleranter sind die, die gebildet sind oder zumindest in der Lage, den Koran zu lesen. Denn die nehmen ihn dann oft wörtlich.
Was nehmen sie wörtlich?
Ibn Warraq: Die Ungleichbehandlung der Frau, die Unterdrückung von Nicht-Muslimen, das Vermischen von religiöser und staatlicher Macht, die Geringschätzung der Meinungsfreiheit. Für all das können sie sich auf die wichtigsten Quellen des Islam, den Koran und die Sunna, berufen.
Sie wurden selbst in Koranschulen unterrichtet.
Ibn Warraq: Ich habe den Koran in Pakistan auswendig gelernt. Verstanden habe ich ihn nicht. In England habe ich dann Islamwissenschaften studiert. Einer der Dozenten war ein sehr islamfreundlicher Christ. Er hat selbst für militante Ausprägungen des Islam noch großes Verständnis gehabt. Da fing ich an nachzudenken. 1989 war dann für mich der endgültige Wendepunkt, als Salman Rushdie wegen seiner "Satanischen Verse" mit der Fatwa belegt wurde.
Wendepunkt inwiefern?
Ibn Warraq: Rushdie schrieb und vertraute dabei auf die Meinungsfreiheit. Ob man das Buch mag oder nicht – er hat das Recht zu schreiben. Oder, wie Rushdie sagte: "Meinungsfreiheit bedeutet, auch die Freiheit zu haben, Menschen zu verärgern." Ansonsten wäre diese Freiheit doch bedeutungslos.
Ich fand, die Meinungsfreiheit ist ein Wert, den man verteidigen müsse. Ein Wert, den wir im Westen verteidigen müssen. Wie die Redefreiheit, die Gewissensfreiheit, echten Pluralismus, das westliche Rechtssystem.
War der Westen damals zu tolerant?
Ibn Warraq: Absolut. Hätte er sich hinter Rushdie gestellt, statt panisch einzulenken, wegen politischer und wirtschaftlicher Vorteile, hätten wir viele Probleme heute nicht. Stattdessen schaffen wir noch mehr Probleme, indem wir zurückweichen. Wie bei den Mohammed-Karikaturen.
Oder nehmen Sie den Iran. Der Iran verachtet den Westen. Jedes Mal, wenn ein Kompromiss geschlossen wird, sagt der Iran nicht "danke", sondern verachtet den Westen noch mehr, weil er das westliche Einlenken als Sieg für den Islam betrachtet.
Wo sollte die Toleranz des Westens enden?
Ibn Warraq: Man muss auf der strikten Trennung von Staat und Religion bestehen. Darauf, dass alle Menschen vor dem Rechtssystem gleich sind. Die Muslime müssen akzeptieren, dass Religion eine Privatsache ist. Sie müssen den Wunsch aufgeben, die Scharia anzuwenden. Sobald die Religion aus der öffentlichen Sphäre genommen wird, hat man die Möglichkeit zu Kompromissen. Politik besteht aus Kompromissen. Aber die Religion ist eine unverhandelbare, absolute Forderung.
Für viele Muslime ist Islam nicht nur eine Religion, sondern ein Konzept für alle Lebensbereiche. Muss der Islam sich ändern?
Ibn Warraq: Absolut! Und das geschieht nicht, wenn man so tut, als gäbe es kein Problem – wie es viele westliche Intellektuelle machen. Ich habe wirklich die Nase voll von Medien, die bedauern, dass es im Islam nie eine Reformation gegeben hat. Und die gleichzeitig Menschen wie Ayan Hirsi Ali oder mich kritisieren, weil wir den Islam kritisieren. Es wird in der islamischen Welt keine Aufklärung geben ohne Menschen, die kritisieren.
Die Säkularisation in Europa fand statt dank verschiedener historischer Strömungen, eine von ihnen war die Bibelkritik, in der vor allem Deutsche eine wichtige Rolle spielten: Albert Schweizer etwa betrachtete das Alte und das Neue Testament als menschliche Schriften, die wissenschaftlich analysiert werden können.
Probiert man heute eine Korankritik, reagieren viele Muslime hysterisch. Weil sie keine Kritik an ihrer Religion akzeptieren wollen. Aber wir sollten zur Korankritik ermutigen. Wir müssen die Gelehrten schützen und unterstützen, die den Koran wissenschaftlich betrachten. Das ist der einzige Weg, eine Reformation im Islam anzustoßen. Oder Säkularisation in den Köpfen der Muslime.
Warum werden diese Dinge nicht auch so angesprochen?
Ibn Warraq: Die Leute wollen es einfach nicht besser wissen. Sie haben Angst, die muslimische Bevölkerung zu verärgern. Wir wollen ja nicht dem Rassismus Vorschub leisten. Wobei der Islam keine Rasse ist. Er ist eine Ideologie, die mit anderen rivalisiert und die ganze Welt beherrschen möchte. Er ist eine totalitäre Ideologie.
Woher kommt die Kultur des Verleugnens?
Ibn Warraq: Das hat viele Gründe. Einen beschreibt Bat Ye'or in ihrem neuen Buch "Eurabia": Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schufen die Europäer, allen voran Frankreich, eine europäisch-arabische Achse, um den Einfluss der USA einzudämmen. Es gab bilaterale Abkommen. Die EU rief arabische Austauschprogramme ins Leben, finanzierte arabische NGOs, und schuf so starke europäisch-arabische Netzwerke. Würde man nun etwas am Islam kritisieren, würde das die Verbündeten in der Achse verärgern. Ein anderer Grund ist der Multikulturalismus.
Wieso das?
Ibn Warraq: Ich war in den 1970er Jahren Volksschullehrer in London und sehr beeinflusst von der Idee des Multikulturalismus. Uns wurde gesagt – und ich stimmte dem absolut zu, ohne die Konsequenzen zu erkennen –, dass wir die Kultur der Eltern der Schüler respektieren müssen.
Das bedeutete in der Praxis, dass wir immer weniger über europäische Kultur lehrten und die Rolle Europas in der Kultur ihrer Herkunftsländer herunterspielten. Wir wollten ihnen ja auf keinen Fall das Gefühl geben, Europa oder der Westen sei in irgendetwas vielleicht überlegen. Aber was hatten wir nach all den Jahren davon? Sie bezichtigten den Westen des kulturellen Genozids.
Wie hat das Konzept des Multikulturalismus da versagt?
Ibn Warraq: Es wird den Menschen nicht erklärt, was den Westen für sie so attraktiv macht. Man muss ihnen sagen, dass die Stabilität, die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der letzten 50 Jahre unserem Rechtssystem zu verdanken ist, dem Bildungssystem, dem wissenschaftlichen Herangehen an Probleme. Und dass sie, wenn sie zum Beispiel darauf bestehen, eigene Gesetze anzuwenden, genau das zerstören, was den Westen für sie ursprünglich so attraktiv machte.
Und warum bestehen wir nicht selbst auf dieser Erziehung?
Ibn Warraq: Ich würde es eine Art Naivität nennen. Oder Appeasement. Wie Churchill gesagt hat: "Man füttert das Krokodil und hofft, dass es einen dann als Letzten frisst." Das ist Toleranz am falschen Ort. Man will die Kosten nicht in Kauf nehmen, die es mit sich bringt, die eigenen Werte zu verteidigen.
Wir machen uns mehr Sorgen darüber, Handelsverträge abzuschließen, wirtschaftliche Beziehungen zu pflegen und Öl von den Erdöl produzierenden Ländern zu beziehen. Auf diese Weise untergraben wir unsere eigenen Werte. Man könnte sagen, Nachgeben ist zu einem neuen Wert geworden.
Im Westen wird diskutiert, ob wir tolerant genug gegenüber dem Islam sind. Wird in islamisch geprägten Ländern eine solche Diskussion mit umgekehrten Vorzeichen auch geführt?
Ibn Warraq: Nicht im Geringsten. Der Islam wird – und das wird in Saudi-Arabien, Syrien und Ägypten bis heute gelehrt – für überlegen gehalten.
Wird über die Toleranz gegenüber nicht-muslimischen Minderheiten diskutiert?
Ibn Warraq: Es gibt mutige Einzelpersonen, die für Menschenrechte generell kämpfen. Sie wollen etwa, dass Nicht-Muslime vor dem Gesetz gleich sind. Dazu muss man wissen, dass die christliche Bevölkerung im Nahen Osten in den letzten 30 Jahren stark geschrumpft ist. Weil sie verfolgt und benachteiligt wird. Ostern und Weihnachten muss sie mit Schikanen oder Angriffen rechnen. In Ägypten werden jedes Jahr einige Kopten ermordet. Warum verteidigen wir nicht auch die Rechte dieser Christen in Ägypten?
Wird in islamischen Ländern über die Rolle des Islam und die Grenzen seines Einflusses auf den Alltag diskutiert?
Ibn Warraq: Die pakistanischen Frauen sind da unglaublich mutig. Als der damalige Präsident Zia-ul-Haq die Scharia einführte, waren sie es, die am meisten betroffen waren. Sie gingen dagegen auf die Straße, unbewaffnet. Sie wurden von der Polizei angegriffen und angeklagt – aber sie wehrten sich. Sie verteidigen auch heute ihre Rechte. All das, natürlich, ohne den Islam zu attackieren. Sie müssen sehr vorsichtig sein mit dem, was sie sagen.
Da ist zum Beispiel die Menschenrechtsanwältin Asma Jahangir, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt. Und vor gar nicht langer Zeit demonstrierten in Pakistan säkular gesinnte Muslime. Mein Büro in den USA bekommt immer wieder E-Mails oder Briefe, in denen wir gebeten werden, bei der Gründung von säkularen und humanistischen Organisationen zu helfen. Es gibt also Ansätze. Die müssen wir ermutigen.
Das Interview führte Dirk Schönlebe
© Zeitschrift für Kulturaustausch 3/2007
Ibn Warraq wurde 1946 in Indien geboren und wuchs in Pakistan auf und besuchte auch Koranschulen. Später studierte er in Edinburgh und wandte sich vom Islam ab. Ibn Warraq lebt derzeit in den USA, wo er sich im Institute for the Secularisation of Islamic Society (ISIS) engagiert. Er veröffentlicht unter dem Namen Ibn Warraq, einem Pseudonym, das traditionell von kritischen Denkern im Islam verwendet wird. Nicht einmal seine Familie weiß, dass er 1994 den Bestseller "Why I am not a Muslim" veröffentlichte. Die deutsche Übersetzung kommt im Herbst 2007 in einer Neuauflage (Matthes & Seitz, Berlin) heraus. Warraqs neues Buch "Defending the West: A Critique of Edward Said's Orientalism" erschien im August 2007 (Prometheus Books, Amherst, New York).
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