"Junge Muslime brauchen wirkliche Vorbilder"
Frau Mattson, welches sind die größten Herausforderungen für amerikanische Muslime beim Aufbau islamischer Strukturen?
Ingrid Mattson: Die Vielfalt der amerikanischen Muslime ist eine Quelle der Stärke und der Schwäche zugleich. Sie ist ihre Hauptstärke, weil sie Kreativität im Denken ermöglicht. Sie führt zum Dialog und zwingt Menschen, ihre Annahmen darüber, wie Islam gelebt werden sollte, zu überdenken und verhindert Konformismus. Andererseits erschwert die Vielfalt, in wichtigen Fragen gemeinsam zu handeln oder eine Vision zu entwickeln, wo die muslimische Gemeinschaft in z.B. zehn Jahren stehen soll. Die Vielfalt unter den Muslimen bietet große Chancen, ist aber gleichzeitig unsere größte Herausforderung.
Führen Sie auch diese Debatten darüber, wer dazu gehört und wer nicht?
Mattson: Nicht so sehr, weil es in den USA keine staatlichen Lehrstühle für Islamische Theologie gibt wie in Deutschland. Muslime müssen alles mit Spenden selber finanzieren. Der Islam in Amerika ist eine Kultur, die erst noch zusammenwächst. Es gibt keinen Islam, der vom Staat bevorzugt wird. In Deutschland und Europa stellt sich die Frage: Wollen wir eine von der Regierung finanzierte Religion? Wie weit wollen wir es der Regierung erlauben zu entscheiden, welcher Islam der richtige ist? Das gibt es in den USA nicht in dem Maße, aufgrund des verfassungsrechtlichen Verbots für den Staat, sich in religiöse Bekenntnisse einzumischen.
Macht es das einfacher, in den USA muslimische Strukturen aufzubauen? Sie haben selbst ein Programm für islamische Seelsorger, Frauen und Männer, entwickelt.
Mattson: Es bedeutet mehr Verantwortung. Wir müssen selber Geld auftreiben, organisieren und eine gemeinsame Grundlage finden. An einem bestimmten Punkt muss man eine Grenze ziehen. Als ich das Programm entwickelt habe, kam die Frage auf: Was ist mit islamisch gemeint? Wo liegen die Grenzen dieser Gemeinschaft? Es war weder mein Recht noch mein Wunsch zu sagen, es gibt den einen orthodoxen Islam und jeder, der am Programm teilnehmen will, muss sich daran orientieren. Ich habe Muslime gesucht, die der Vielfalt der Gemeinschaft nutzen, also Sunniten, Schiiten und Sufis. Die einzige Voraussetzung war, dass sie bereit sein mussten, für Menschen aus verschiedenen islamischen Strömungen präsent zu sein. Denn darin besteht die Aufgabe eines Seelsorgers.
Was ist mit Bewegungen wie der Ahmadiyya?
Mattson: Die Ahmadiyya betrachten sich selbst als Muslime. Die muslimische Mehrheit sieht sie allerdings wohl eher außerhalb des islamischen Spektrums, so wie die meisten Christen die Mormonen nicht als christlich akzeptieren würden. Abgrenzungen lassen sich also nicht vermeiden. Selbst die offenste und liberalste Position kommt an einen Punkt, wo Grenzen gezogen werden müssen. Ich möchte nur nicht, dass diese Entscheidung eine willkürliche Machtdemonstration ist. Doch das ist schwierig.
Wie haben Sie entschieden?
Mattson: Die Frage kam erst auf, nachdem ich nicht mehr die Verantwortung hatte. Aber ich würde die Ahmadiyya ins Programm lassen. Ihre Vertreter müssten selber entscheiden, ob ihnen unser Angebot etwas bringt. Es ging ja nicht um eine religiöse Unterweisung, sondern um ein Bildungsangebot für Seelsorger. Jede religiöse Unterweisung muss von der eigenen Gemeinschaft kommen. Wenn die Seelsorger dann im Krankenhaus oder im Gefängnis arbeiten, brauchen sie die Unterstützung ihrer Gemeinschaft.
Sie haben auch Straßen-Seelsorger angeregt. Geht das Projekt voran?
Mattson: Ich arbeite mit einigen Leuten daran, das umzusetzen. Ich kenne einige christliche Straßen-Seelsorger und Muslime, die auch so arbeiten, indem sie einfach da sind, als mitfühlende, unterstützende und befriedende Präsenz. Ich meine damit nicht Straßenprediger, die Leute bekehren möchten. Für mich ist ein Seelsorger jemand, der spirituelles Leiden lindert und ein Gespür für Gottes Liebe für eine Person in Not mitbringt. Wir leben in einer sehr unruhigen Phase des Umbruchs und der Mobilität. Wir müssen flexibler werden mit unserem Dienst für die anderen. Man kann nicht in der Moschee sitzen und warten, dass die Menschen kommen. Deshalb suche ich nach anderen Formen der Seelsorge.
Vertreter der Muslime stehen zwischen islamischem Extremismus auf der einen und wachsenden anti-muslimischen Ressentiments auf der anderen Seite. Was können sie dem entgegensetzen?
Mattson: Wir müssen die Positionen der Extremisten aufgreifen, klarstellen, was wir glauben und diese Information auch verfügbar machen. Wir müssen uns auch Fragen stellen, die unsere Sicherheit betreffen, aber wir dürfen nicht ständig reagieren. Es werden überall verrückte Dinge gesagt; es würde unsere gesamte Zeit und Energie in Anspruch nehmen, darauf zu antworten. Es ist wichtig, dass wir an unserer Gemeinschaft arbeiten.
Was meinen Sie damit?
Mattson: Wir sollten unsere personellen Ressourcen fördern, uns vernetzen, auf Bildung setzen und darauf konzentrieren, wie man heute nach ethischen Grundsätzen leben kann. Wir sollten uns nicht davon ablenken lassen, was die Extremisten tun. Wir brauchen deutliche Stellungnahmen zu einigen Sichtweisen dieser Extremisten, ohne uns in ein permanentes Gezänk mit ihnen verwickeln zu lassen. Der beste Beweis ist doch, wie man lebt. Junge Muslime sind oft verunsichert, was der Islam eigentlich ist. Sie brauchen mehr als alles andere wirkliche Vorbilder, die sich selbst treu sind, entschlossen auftreten, und die zeigen, wie man als rationaler, gläubiger und ethisch handelnder Muslim heute leben kann. Darauf müssen wir uns konzentrieren.
Trotz der Anschläge vom 11. September ist das Klima für Muslime in den USA heute angenehmer als in Europa. Woran liegt das?
Mattson: Das hat mit der amerikanischen Geschichte, mit dem Rechtssystem und der Kultur zu tun, aber auch mit den amerikanischen Muslimen selbst. In der Selbstwahrnehmung der Amerikaner ist ihr Land auf Religionsfreiheit gegründet. Wenn einige rechte Republikaner sagen, ein Muslim könne nicht Präsident werden, dann wird ihnen rasch entgegnet, dass solche Aussagen der amerikanischen Identität widersprechen. Für Amerikaner gehört Religionsfreiheit zum Kern ihrer Identität. Und wer für seine Religion eintritt, der wird auch respektiert.
Welchen Anteil haben Muslime an dem besseren gesellschaftlichen Klima?
Mattson: Amerikanische Muslime verfügen über Ressourcen, die europäische Muslime erst noch entwickeln müssen. Ein beträchtlicher Teil von ihnen besteht nicht aus Konvertiten oder Migranten. Es sind vor allem schwarze Amerikaner, die etwa ein Drittel der Muslime ausmachen. Durch sie wird der Islam eine amerikanische Religion, ihre Geschichte reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Niemand kann sagen, wir würden nicht dazugehören. Und das gibt uns das nötige Vertrauen, manches kritisch zu sehen und trotzdem zu sagen, das ist unser Land. Gerade schwarze Amerikaner sind sehr kritisch zum Beispiel gegenüber der Polizei, dem systemimmanenten Rassismus und einer Wirtschaftspolitik, die Menschen unter Wert verkauft, aber niemand stellt in Frage, dass es Amerikaner sind, die diese Kritik äußern.
Islamische Feministinnen wie die Amerikanerin Amina Wadud fordern, dass Frauen das Freitagsgebet leiten dürfen. Wie denken Sie darüber?
Mattson: Für mich ist das eine Frage des religiösen Rechts, die man im Kontext betrachten muss. Als sunnitische Muslimin schaue danach, ob jemand auf einer nachvollziehbaren Grundlage argumentiert, so wie es Amina Wadud als Islamgelehrte macht. Andere bringen Argumente, die nichts mit dem Islam zu tun haben, weil sie sich nicht für religiöses Leben interessieren. Für mich zählt weniger das Ergebnis, sondern ob die Argumentation den normativen islamischen Quellen entspricht.
Ist das denn eine wesentliche Frage in den Gemeinden?
Mattson: Für die meisten nicht, aber es gibt praktizierende Muslime, für die sie zentral ist. Für manche entscheidet sich an der Leitung des Freitagsgebets durch Frauen, ob diese Religion Frauen die gleiche Würde zuspricht wie Männern. Ich kenne Frauen und Männer, für die diese derzeit ungelöste Frage der entscheidende Stein des Anstoßes in ihrer Religion ist. Aber für die meisten ist das kein Thema. Für die meisten Frauen ist es allerdings wichtig, sich gleichberechtigt zu fühlen, mit gleicher Würde und gleichen Entscheidungsbefugnissen wie Männer in der Moschee ausgestattet zu sein.
Wie wird aus Ihrer Perspektive die aktuelle Flüchtlingskrise die Situation der Muslime in Europa verändern?
Mattson: Wie erleben gerade, wie sich Staatsgrenzen auflösen oder weniger wichtig werden. Die europäischen Muslime stehen noch am Anfang, sich eine muslimische Identität aufzubauen. Jetzt kommt ein Strom von Menschen, die eng mit dem Nahen Osten verbunden sind. Die Idee eines europäischen Islam gerät dadurch stark unter Druck. Aber vielleicht sind solche nationalen Identitäten ohnehin künstlich. Wir sollten uns stattdessen eher auf ethische Werte konzentrieren: Wie wir anderen Gutes tun und Schaden abwenden können, wo auch immer wir uns aufhalten. Vielleicht wird uns das retten.
Das Interview führte Claudia Mende.
© Qantara.de 2015
Ingrid Mattson ist Islamwissenschaftlerin und lehrt nach längerem Aufenthalt in den USA heute an der University of Western Ontario in London, Kanada. Von 2006 bis 2010 war sie als erste Frau Präsidentin der "Islamic Society of North America", dem größten islamischen Verband in den USA und Kanada.