Der Islam als Sündenbock
John R. Bowen liegt zweifelsohne richtig, wenn er bemerkt, dass sich mit Islamophobie und Populismus Stimmen gewinnen lassen – und das nicht nur aus dem rechten Lager: "In den meisten europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten hat ein neuer äußerst rechter Populismus Fuß gefasst, und erfahrene Politiker aus dem moderat-konservativen Lager versuchen, einige dieser Stimmen zurück zu gewinnen, indem auch sie den Islam und die Eliten verurteilen."
Islamfeindlichkeit erfahre dadurch eine Verbreitung und Beachtung, welche offener Rassismus oder andere Formen des Hasses nicht fänden. Und genau das mache sie so gefährlich, meint Bowen.
Der Anthropologe kommt in seiner Abhandlung gleich zum springenden Punkt: Er beginnt mit der allgegenwärtigen Behauptung, die europäischen Regierungen betrieben eine Politik des Multikulturalismus, welche Muslime an der Integration hindere.
Die Folgen westlicher Einwanderungspolitik
Diese Politik habe die Gemeinden muslimischer Immigranten vermutlich dazu ermutigt, im Herzen des liberalen, aufgeschlossenen und toleranten Europas unter sich zu bleiben und die eigenen Traditionen und kulturellen Praktiken zu pflegen – religiösen Extremismus inbegriffen. Dies habe zu Gewalt und Extremismus, zur Verletzung von Frauenrechten, Respektlosigkeit gegenüber sexuellen Minderheiten und allgemein zu sozialen Spannungen geführt.
Doch genau das sei nicht der Fall, argumentiert Bowen. Tatsächlich stellt Westeuropa heutzutage eine kulturelle und religiöse Vielfalt zur Schau, die das Ergebnis verschiedener Formen der Migration nach dem Zweiten Weltkrieg darstelle. Diese habe nichts mit den sehr unterschiedlichen politischen Ansätzen zu tun, die die Gastländer einführten als ihnen bewusst wurde, dass diese Einwanderer länger bleiben würden, als ursprünglich von den Behörden vorgesehen – vielleicht sogar für immer.
In Frankreich und Großbritannien beispielsweise warb der Staat die aus den ehemaligen Kolonien eingewanderten Arbeiter an, bei der nach dem Krieg entstandenen Aufbauarbeit tatkräftig mitzuwirken. Deutschland berief sich auf seine alten Bande mit der Türkei und ermutigte Hunderttausende Helfer, das deutsche "Wirtschaftswunder" zu unterstützen.
Einige Jahrzehnte darauf kamen Migranten aus Afrika und Asien nach ganz Westeuropa und ließen sich weit von ihrer Heimat in Städten wie München, Amsterdam und Mailand nieder, oft als politische Flüchtlinge.
Mythos "Staats-Multikulturalismus"
Was den "Multikulturalismus" selbst betrifft, argumentiert Bowen, so sei er eine Bezeichnung, die die anti-islamischen Lager quasi als einen Knüppel gegen liberal gesonnene Politiker einsetzten. Aber dieser "Staats-Multikulturalismus" sei nichts weiter als ein Mythos.
In diesem Sinne meint er, dass Regierungen Immigrantengruppen dazu auffordern zu bleiben und sich neben der etablierten Gesellschaft einzurichten, sodass "Parallel-Strukturen" und "Parallel-Welten" nicht nur ermöglicht, sondern auch stillschweigend geduldet werden. Angeblich bevorzugen sie es "Seite an Seite zu leben" anstatt "zusammen zu leben". Diese Politik schließt Dinge wie die Anerkennung ethnischer Gesellschaftsstrukturen oder die Erlaubnis des Gebrauchs von Arabisch oder Türkisch in Schulen ein.
In Deutschland gab es beispielsweise vor dem Jahr 2000 nichts was man auch nur im Entferntesten als multikulti in Bezug auf das Verhältnis des Staates zur türkischen Gesellschaft bezeichnen könnte. Deutschland weigerte sich beharrlich einzuräumen, ein "Einwandererland" zu sein und schien darauf zu setzen, dass diese Menschen eines Tages ihre Sachen packen und wieder zurückkehren würden. Lange nachdem klar war, dass dies nicht passieren würde, wurde den Gastarbeitern und ihren Nachkommen und ihren Nachkommen lange Zeit die Staatsbürgerschaft vorenthalten.
Dies änderte sich erst im Jahr 2000 mit einer Reform des Staatangehörigkeitsrechts. Deutschland hat sich letzter Zeit zudem darum bemüht, dass der Islam in Deutschland als offizielle Religion anerkannt wird. Dieser Status würde der türkischen Community gewiss zahlreiche Rechte und Vorteile bringen, wie etwa den islamischen Religionsunterricht an Schulen. Doch die Diversität der islamischen Gemeinde habe dies letztlich verhindert. Wie Bowen unterstreicht, handelt es sich um kein spezifisch multikulturelles Privileg für den Islam, sondern ist Teil deutscher Gesetzesnormen zur Regelung religiöser Vielfältigkeit, die auch andere Religionen betreffen.
Multikulturell sich selbst überlassen
In Großbritannien sieht die Lage anders aus. Das Land fördert eine Art des Multikulturalismus, zeigt sich jedoch nicht verantwortlich für all die Missstände, die ihm zugeschrieben werden, besonders den nicht sogenannten homegrown terrorism. Was in Großbritannien hauptsächlich unter den Begriff Multikulturalismus fällt, ist die Regelung des öffentlichen Bildungswesens, wie der Religions-Lehrplan an Schulen oder das Angebot von Halal-Speisen.
Die Tatsache, dass es kleine Städte und ganze Stadtviertel gibt, die überwiegend von Menschen mit Migrationshintergrund bewohnt werden, normalerweise aus Pakistan oder Bangladesch, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Migration: Familien folgten ihren Verwandten, Menschen aus einem Dorf oder einer Region siedelten nahe bei einander. In den Schulen ist die erlaubte und von den Konservativen unterstützte Diversität dieselbe, wie sie auch anderen religiösen Gemeinden im Laufe der englischen Geschichte zuteil wurde.
Und dann gibt es noch Frankreich, das wie Bowen sagt, niemals einen ernsthaften Gedanken an "Multikulturalismus" verschwendet hat. Der Staat hat muslimische Neuankömmlinge genau so behandelt, wie die anderen religiösen Gemeinden, was – trotz laïcité – staatliche Unterstützung für religiöse Organisationen, die Instandhaltung religiöser Gebäude und die Anstellung von Lehrern für private religiöse Schulen einschließt. Dies ist, laut Bowen, eine Jahrhunderte alte Praxis.
Anschließend wirft er einen Blick auf die Niederlande, wo die Anwesenheit von sehr erfolgreichen islamfeindlichen Parteien, wie die des berüchtigten Islamophoben Geert Wilders, noch bis vor kurzem bei Volksabstimmungen große Erfolge erzielen konnte.
Bowen argumentiert, dass es die niederländische Tradition der Toleranz für Randgruppen oder Minderheiten war, die letztlich auch für die generelle Akzeptanz muslimischer Immigranten in den Niederlanden verantwortlich ist. Es handelte sich also keineswegs um eine dezidiert multikulturelle Politik.
Schreckgespenst islamische Kultur
Neben dem Phänomen des Multikulturalismus und der Migration thematisiert Bowen noch ein weiteres "Schreckgespenst der modernen westlichen Gesellschaften", nämlich, dass die islamischen Werte angeblich im Gegensatz zu denen des Westens mit seiner aufklärerischen Tradition stünden.
Der Islam würde daher als Bedrohung wahrgenommen – eine Religion, die sich im ständigen Kampf mit dem Westen und seiner Kultur befände. Dieser Satz ist populär auf beiden Seiten des Atlantiks und sickert auch im alltäglichen öffentlichen Diskurs durch – selbst im linken Lager. Europa scheint bedrängt zu sein von einem undifferenzierten, von Natur aus gewalttätigen Islam, der, aufgrund der angeblich noch immer hohen Geburtenrate bei den Muslimen, Europa in den kommenden Jahrzehnten überrennen könnte.
Alles Unsinn, meint Bowen. Umfragen und Studien zeigten, dass in Bezug auf kulturelle Themen ein weit geringerer Unterscheid zwischen religiös eingestellten Muslimen und religiös eingestellten Christen besteht, als zwischen den jeweils nicht-religiösen Vertretern. Man kann daher mit wenigen Ausnahmen sagen: "Die Lücke besteht nicht zwischen dem Islam und dem Westen, sondern zwischen Menschen, die stärker religiös eingestellt sind und denen, die es weniger sind – ob es nun Muslime sind oder Christen."
Auch das Konstrukt der "Islam richte sich grundsätzlich gegen den Westen" sei völlig abwegig, meint Bowen. Entgegen der Behauptung vieler Demagogen und Panikmacher passten sich viele muslimische Immigranten an ihre neue Kultur an und übernähmen auch ihre Werte, auch wenn sicherlich Schnittstellen zwischen der alten und neuen Welt existierten.
Und tatsächlich verläuft die Geburtenrate von Muslimen der zweiten Generation in Europa in fast gleichen Bahnen wie die der übrigen Bevölkerungen. Es gibt bislang auch keinen Beweis dafür, dass konservativere Muslime eher zur Gewalt neigen als weniger religiöse Muslime.
Paul Hockenos
© Qantara.de 2013
John R. Bowden: "Blaming Islam", A Boston Review Book MIT Press, 127 Seiten, 2012
Übersetzt aus dem Englischen von Laura Overmeyer
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de