Erstmals Ägypter als "Gerechter unter den Völkern"
Frau Steinfeld, wie kam es zur Ehrung des ersten arabischen Judenretters durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem?
Irena Steinfeld: Wir haben die Dokumente zu Helmy von Herrn Mülder erhalten, der die Geschichte der jüdischen Opfer der Shoah in seinem Viertel erforschte. Darin war die Rettungsgeschichte von Anna Boros (Gutman) durch Mohammed Helmy und Frieda Szturmann beschrieben. Nachdem wir diese Informationen geprüft hatten, brachten wir sie der Kommission der Gerechten, die beiden den Titel "Gerechte unter den Völkern" verlieh.
Welchen Status hatte Helmy als Ägypter und Muslim nach Hitlers Machtergreifung 1933?
Steinfeld: Seine Situation wurde problematisch, da er nach der Rassenideologie ein sogenannter Hamit und daher kein 'Arier' war. Deswegen konnte er seine deutsche Verlobte nicht heiraten. Das tat er erst unmittelbar nach Kriegsende. Er hatte sich zudem kritisch über die Nazis geäußert und wurde deswegen inhaftiert und später in einem Lager bei Nürnberg interniert, weil er Ägypter war. Ägypten war englisches Territorium und England Feindesland. Helmy hatte mehrere Probleme, aber dennoch hat er sich gegen die Nazis geäußert.
Wie kam es dazu, dass die damals 16-jährige Anna Boros, die in Berlin mit ihrer Mutter und Stiefvater zusammenlebte, Unterschlupf suchte?
Steinfeld: Sie stammte aus Rumänien und kam als zweijähriges Kind nach Berlin gemeinsam mit ihrer Mutter). In Berlin lebten Annas Großeltern, ihre Mutter Julie heiratete einen Berliner. Als sie als Ausländer Anfang 1942 deportiert werden sollte, beschlossen sie, in die Illegalität zu gehen.
Das war ihr wohl lieber als die lebensgefährliche Deportation nach Rumänien. Wie aber kam Boros' Begegnung mit Helmy zustande?
Steinfeld: Alle Familienangehörige waren Helmys Patienten, auch Anna Boros. Wir wissen nur, dass er sie in seiner Laube in Berlin-Buch versteckt hat. Als die Situation brenzlig wurde, brachte er sie zu Frieda Szturmann für einige Wochen, bis sich die Lage wieder beruhigte. Dr. Helmy versorgte auch Annas Großmutter und Onkel, die ebenfalls in der Illegalität lebten, medizinisch. Das war für jemand in seiner Situation besonders gefährlich, doch er stand zu seinen Patienten.
Wir wissen leider nur sehr wenig über Dr. Helmy, da seine Frau verstarb und er keine Nachfahren hat. Aber wie stellen Sie sich ihn anhand der Unterlagen vor? Entspricht er dem typischen "Gerechten unter den Völkern"?
Steinfeld: Helmy war wohl ein Mensch mit einem starken Charakter, ein moralischer Mensch, der sich nicht einschüchtern ließ. Die 25.000 anerkannten Gerechten haben allerdings nichts gemeinsam. Sie kommen aus allen Religionsgemeinschaften oder sind Atheisten; sie gehören allen Altersgruppen an und haben unterschiedliche Berufe. Wir ehrten Professoren und Analphabeten, Adlige und Prostituierte. Das Profil eines Retters ist identisch zu dem eines Täters. Die Entscheidung, das Leben eines Menschen zu retten war eine persönliche, und jeder konnte zwischen gut und böse entscheiden. Leider trafen viel zu Wenige die erste Entscheidung.
Mohammed Helmy wurde mit einer Urkunde und eine Medaille geehrt, auf der ein Häftling in gestreifter Uniform zu sehen ist, der durch den Stacheldraht seinen Weg in die freie Welt sucht.
Steinfeld: Auf der Medaille steht der Spruch: 'Wer ein Leben rettet, hat eine ganze Welt gerettet'. Das ist ein jüdischer Spruch aus dem Talmud. Die grundlegende Idee ist, dass ein Menschenleben eine ganze Welt ist.
Konnten Sie in Yad Vashem in Folge der Anerkennung Helmys als "Gerechter unter den Völkern", die weltweit Schlagzeilen machte, auch neue Erkenntnisse über ihn gewinnen?
Steinfeld: Schon am gleichen Tag rief die Nichte von Anna Gutman (geborene Boros) an. Sie erinnerte sich an einen Besuch zusammen mit ihrer Tante in Berlin bei Dr. Helmy. Sie setzte uns in Verbindung mit Gutmans Tochter in den USA, die uns bald Unterlagen und Fotos ihrer Mutter schicken würde.
Wer entscheidet über "die Gerechten". Und ist dies auch eine politische Frage?
Steinfeld: Die Politik spielt keine Rolle bei der Ehrung eines Retters. Die ägyptische Botschaft wurde darüber informiert, Yad Vashem hat die Geschichte auch auf seiner arabischen Webseite publik gemacht, auch berichten manche arabische Medien darüber. Der Holocaust ist ein sehr schweres Problem in der arabischen Welt, weil er im Schatten des israelisch-palästinensischen Konflikt steht. Deswegen glaube ich nicht, dass die Anerkennung eines Ägypters viel an dieser Haltung ändern wird. Aber auch wenn wenige ihre Meinung dadurch ändern, wäre dies ein Erfolg.
Interview: Igal Avidan
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de