"Eine tickende Bombe im Hause Erdoğan"
Frau Akgün, wie wirkt sich die aktuelle Entwicklung auf die Position des türkischen Regierungschefs Erdoğan aus?
Lale Akgün: Er war noch nie so angeschlagen wie jetzt. Erdoğan hat in den vergangenen Monaten gedacht, er könne seine Macht Stück für Stück mehr ausbauen und er sei unverwundbar. Nach den Gezi-Unruhen und den jetzt aufgekommenen Korruptionsvorwürfen denke ich, dass er mehr als angeschlagen ist: Er ist angezählt.
Wie nahe ist die Korruptionsaffäre schon an sein direktes Umfeld gerückt?
Akgün: Sehr nah. Sein Sohn Bilal ist von der Staatsanwaltschaft für den 2. Januar vorgeladen - nicht als Zeuge, sondern als Verdächtiger, genau zu den Themen Korruption und Geldwäsche. Dies ist eine tickende Bombe im Hause Erdoğan.
Zwei Minister mussten schon zurücktreten, weil deren Söhne offenbar in die Korruptionsaffäre verstrickt sind. Was heißt das dann für Erdoğan?
Akgün: In der Analogie hieße das, Erdoğan müsste auch zurücktreten. Aber er redet ja schon davon, dass es alles wieder die bösen Kräfte aus dem Ausland sind, die sich jetzt seinen Sohn als Zielscheibe ausgesucht haben, um ihn persönlich zu treffen. Das heißt, Erdoğan wird jetzt noch eine Weile versuchen, an der Macht zu bleiben. Doch die Justiz entzieht sich ihm immer mehr, denn er versucht ja auch, die Gewaltenteilung zu unterlaufen. Ohne die könne er durchregieren, hat Erdoğan vor einer Woche gesagt. Dazu kommt, dass immer mehr Leute das sinkende Schiff AKP verlassen.
Stecken wirklich allein die Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen dahinter, dass nun die Justiz wegen Korruption im Umfeld der türkischen Regierung ermittelt?
Akgün: Das denke ich schon. Allerdings haben die Anhänger Gülens nicht die Korruptionsfälle erfunden. Seit Jahren wird in der Türkei darüber gesprochen, dass sich Erdoğan und seine nächste Umgebung enorm bereichert haben. Das ist ein offenes Geheimnis. Doch dass die Gülen-Anhänger jetzt zuschlagen, führe ich – wie die meisten Beobachter – auf die Kränkung zurück, dass die Schulen der Bewegung geschlossen wurden.
Es hieß immer, Erdoğans AKP ist wie ein Bus, in dem ganz unterschiedliche Leute sitzen – zunächst auch Intellektuelle und Linke: Menschen, die sich davon mehr Demokratie in der Türkei versprochen hatten. Im Moment verlassen immer mehr diesen Bus. Jetzt sind nur noch Milli-Görüs-Leute und Fethullah-Gülen-Anhänger drin. Und Erdoğan hat sich gedacht, die Gülen-Anhänger schmeiße ich selber aus dem Bus. Doch er hat die Macht dieser Leute unterschätzt. Die sitzen ja zum Teil in Schlüsselpositionen, wo sie übrigens mit Erdoğans Zustimmung hingekommen sind.
Es gibt erneut Demonstrationen gegen Erdoğan und dahinter steckt nicht die Gülen-Bewegung. Wie stark ist dieser Teil der Zivilgesellschaft, der keinem der beiden konservativen Lager angehört?
Akgün: Die dritte Kraft in der Türkei, nämlich die Zivilgesellschaft, die wirklich mehr Demokratie und eine offene Gesellschaft will, die müsste sich jetzt organisieren. Aber ich habe im Sommer selbst erlebt, dass die jungen Leute sagten, wir verstehen uns nicht als politische Kraft. Wir wollen keine Partei bilden, wir wollen einfach nur so dagegen sein. Doch das reicht nicht. Diese Kraft, die sehr viele Sympathisanten hat, müsste sich politisch organisieren. Sie käme sehr leicht bei Wahlen in der Türkei über die Zehnprozenthürde.
Die Gezi-Bewegung ist benannt nach einem Park in Istanbul, in dem Bürger vergangenen Sommer gegen umstrittene Bauprojekte der Regierung protestierten. Da konnte man sehen, dass ganz unterschiedliche Leute auf die Straßen gegangen sind – so wie jetzt bei den Demonstrationen der vergangenen Tage: junge, alte Leute, Frauen, Männer, alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen. Sind die sich überhaupt einig genug, um eine Partei gründen zu können?
Akgün: Nein, die sind sich eigentlich nur in einem Punkt einig: Erdoğan muss weg! Das ist sozusagen der gemeinsame Nenner. Und dieser Punkt wird so lange halten, bis Erdoğan weg ist. Meine Sorge ist, dass sich dann Fethullah Gülen als Retter in der Not hinstellt und dann von allen bejubelt wird. Weil man denkt, er ist das kleinere Übel.
Wie sollte sich die EU, mit der die Türkei seit Jahrzehnten über einen Beitritt verhandelt, jetzt verhalten?
Akgün: Die EU könnte im Moment sehr hilfreich sein, wenn sie vor allem die Zivilgesellschaft mit Projekten und Programmen unterstützt. Damit diese Menschen die Chance haben, sich so zu organisieren, dass sie eine politische Kraft bilden können.
Kann und sollte der neue Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier von der SPD jetzt etwas unternehmen?
Akgün: Er sollte – im diplomatischen Ton, wie es sich für einen Außenminister gehört – seine Meinung äußern. Denn es geht nicht an, dass wir als demokratischer Staat zusehen, wie in einem anderen Land ein – zugegeben gewählter – Ministerpräsident sich immer mehr zu einem Alleinherrscher geriert.
Das Gespräch führte Arnd Riekmann.
© Deutsche Welle 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Lale Akgün war von 2002 bis 2009 für die SPD im Deutschen Bundestag. Geboren wurde sie in Istanbul.