''Die Gesellschaft will keinen Extremismus''
Herr Barghouthi, die Auswirkungen des arabischen Frühlings zeigen sich auch in den palästinensischen Autonomiegebieten - am deutlichsten derzeit bei der den Gazastreifen regierenden Hamas. Das Assad-Regime, lange Zeit ein Bündnispartner der Hamas, hat sich politisch und moralisch vollkommen diskreditiert. Darum hat sich die Hamas aus Damaskus zurückgezogen. Wie stark beeinflussen die Ereignisse in Syrien die Hamas?
Mustafa Barghouti: Es gibt einen positiven Aspekt, den ich selbst auch im Umgang mit der Hamas bemerkt habe: Der Erfolg des arabischen Frühlings - besonders in Ländern wie Ägypten und Tunesien - hat gezeigt, welche Kraft Gewaltlosigkeit entfaltet. Ich selbst spreche mich seit über zehn Jahren für Gewaltlosigkeit aus. Während des letzten Treffens der Hamas in Kairo konnte man sehen, dass die Organisation ihren Standpunkt verändert hat und nun tatsächlich in Richtung eines gewaltfreien Wegs geht. Mir scheint, die Veränderungen in der arabischen Welt hatten in dieser Hinsicht einen ganz erheblichen Einfluss.
Heißt das, die Hamas verändert sich auch in strategischer und ideologischer Hinsicht?
Barghouti: Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass sie sich im Hinblick auf drei Fragen definitiv verändert hat: Erstens akzeptiert sie nun die Zwei-Staaten-Lösung. Zweitens akzeptiert sie einen gewaltfreien Weg, also Formen des zivilen Widerstands. Das hat die Organisation zuletzt in Kairo sehr deutlich erklärt. Und drittens – allerdings steht dafür der Beweis noch aus - akzeptiert sie ein demokratisches Wahlsystem. Auch dieses ist in der Praxis noch nicht getestet worden.
Aber angenommen, Hamas akzeptiert diese drei Prinzipien wirklich, dann würde das erhebliche Veränderungen mit sich bringen. Für mich ist das ein ermutigendes Zeichen, denn es zeigt, dass sich derzeit etwas verändert.
Sehen das denn alle in der Hamas so?
Barghouti: Nein, ganz sicher nicht. Es gibt da sehr wohl unterschiedliche Ansichten. Aber diese Differenzen sind gerade eine Reaktion auf die Veränderungen. Meiner Ansicht nach wird aber die Mehrheit den neuen Kurs unterstützen.
Was sind aus Ihrer Sicht die dringlichsten Aufgaben in den kommenden Monaten?
Barghouti: Es gibt drei Themen, auf die wir uns jetzt konzentrieren. Erstens auf einen gewaltfreien Widerstand zugunsten der palästinensischen Freiheit, auf den Kampf für Freiheit von der Besatzung. Zweitens geht es um einen wirklichen demokratischen Wechsel.
Darum sind wir auch entschieden dagegen, dass sich die innerpalästinensische Teilung verfestigt. Denn sie hindert die palästinensische Gesellschaft daran, Erfahrung im Umgang mit Demokratie zu machen. Und drittens sprechen wir uns für soziale Gerechtigkeit aus.
Wir wollen nicht nur politische, sondern auch soziale Demokratie. Wir glauben, dass diese drei Faktoren die Grundlage einer freien palästinensischen Gesellschaft und deren Staat bilden könnten.
Sie sprachen von "sozialer Demokratie". Was heißt das?
Barghouti: Demokratie bedeutet für meine Begriffe nicht nur politische Freiheit, Wahlen und Machtbalance. Der Begriff setzt auch ein gewisses Maß an sozialer Gerechtigkeit voraus, Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Unterprivilegierten. Es geht darum, Frauen zur Selbständigkeit zu verhelfen, wie auch darum, die Fähigkeiten der jungen Menschen zu entwickeln. Auch muss eine faire Verteilung der Einkommen diskutiert werden: Chancengleichheit für alle. Ebenso impliziert der Begriff ein gutes Bildungs- und Gesundheitssystem, das zwischen den einzelnen Menschen keinen Unterschied macht.
In den letzten Monaten haben gerade die Proteste junger Palästinenser gezeigt, dass diese große Sympathien für säkulare Vorstellungen haben. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Barghouti: Die Gesellschaft will keinen Extremismus. Die Bürger begrüßen eine ausgewogene Politik. Zugleich sind sie sehr beunruhigt über das demokratische Defizit, das vor allem auf der inneren Teilung Palästinas beruht. Darum begrüßen sie eine Politik auf ziviler, säkularer Grundlage. Umso mehr stört es sie, dass es aufgrund der Machtkonzentration in den Exekutivbehörden – im Westjordanland ebenso wie in Gaza – nur geringen Spielraum für demokratische Verfahren gibt. Dieser Umstand veranlasst viele Menschen, wirkliche demokratische Alternativen zu fordern.
Die palästinensisch-israelischen Verhandlungen kommen derzeit nicht recht voran. Warum?
Barghouti: Leider ist in Israel derzeit eine besorgniserregende Bewegung hin zur extremen Rechten zu beobachten. Das weltweit am längsten bestehende Besatzungsregime kann man als Apartheid-Regime beschreiben.
"Apartheid" ist ein starkes Wort. Wie kommen Sie dazu?
Barghouti: Es handelt sich um Apartheid, da es für zwei Gruppen von Menschen, die auf demselben Land leben, zwei verschiedene Gesetzessysteme gibt.
Das kann sich nur ändern, wenn wir die Parameter des Konflikts ändern. Das kann nur durch gewaltfreien Widerstand und starke internationale Solidarität geschehen. Aber auch durch Zusammenarbeit mit jenen Israelis, die verstehen, dass unser Kampf nicht nur die Palästinenser, sondern auch die Israelis von diesem letzten Kolonialsystem befreien will.
Wird der arabische Frühling auch die israelische Haltung gegenüber den Palästinensern beeinflussen?
Barghouti: Ja. Noch verschließen die Israelis zwar ihre Augen vor dieser Entwicklung, aber das führt nicht weit. Denn die Veränderungen in der arabischen Welt sind so grundlegend, dass Israel einen großen Fehler begehen würde, wenn es vergäße, dass die palästinensisch-israelische Frage das Fundament für alle übrigen Beziehungen in der Region ist.
Interview: Kersten Knipp
© Deutsche Welle 2012
Mustafa Barghouthi ist palästinensischer Politiker, Arzt und Bürgerrechtler. Er lebt in Ramallah. 2002 gründete er mit dem Literaturwissenschaftler Edward Said und anderen die sozialdemokratisch ausgerichtete "Palästinensische Nationale Initiative", die sich als Dritter Weg zwischen Hamas und Fatah versteht.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de