"Journalisten greifen Journalisten an"
Sie wurden jüngst mit dem Leipziger "Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien" ausgezeichnet. Was bedeutet dieser Preis für Sie?
Nedim Sener: Für mich ist das aus drei verschiedenen Gründen sehr aufregend. Ich bin 1966 als Arbeitersohn in Deutschland auf die Welt gekommen. Als ich zwei Jahre alt war, schickte mich meine Familie in die Türkei zu meinen Verwandten. Ungefähr 50 Jahre später komme ich in dieses Land als Journalist zurück, um einen Journalisten-Preis zu bekommen. Meine 12-jährige Tochter und meine Frau waren auch dabei. Dieser Preis ist einer der wichtigsten Momente meines Lebens. Ich habe diesen Preis aufgrund meiner Recherchen über den Mord an Hrant Dink bekommen. Dass meine deutschen Kollegen meine Arbeit anerkennen, bedeutet mir sehr viel.
In der Türkei wächst der Druck auf Journalisten. Wie schätzen Sie die Lage der Pressefreiheit in Ihrem Land ein?
Sener: Als ich 2011 inhaftiert wurde, befanden sich zu dieser Zeit in der Türkei insgesamt 102 Journalisten im Gefängnis. Das war damals ein Weltrekord. Danach wurden die Gesetze zwar nicht reformiert, aber es gab zahlreiche Freilassungen. Momentan sind etwa 25 Journalisten in Haft. Allerdings machen genügend Beispiele deutlich, dass auch Journalisten, die nicht inhaftiert sind, an ihrer Arbeit gehindert werden und sich unter Druck gesetzt fühlen. Unabhängig vom intoleranten Umgang der Regierung mit Vertretern der Presse ist ebenso besorgniserregend, dass es auch Journalisten gibt, die andere Journalisten bedrohen und angreifen. Es handelt sich zumeist um solche Medienvertreter, die der Regierung nahe stehen und von ihr unterstützt werden. Es wird zwar versucht, die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei zu unterdrücken, doch versuchen die unabhängigen Journalisten, dagegen anzukämpfen und frei zu arbeiten.
Sie wurden 2011 zusammen mit ihrem Kollegen Ahmet Sik im Rahmen der Ermittlungen rund um den Geheimbund "Ergenekon" festgenommen. Sie hatten beide über die Gülen-Bewegung recherchiert und darüber Bücher geschrieben. Jetzt fordern Zeitungen, die der Gülen-Bewegung nahe stehen, mehr Pressefreiheit in der Türkei, denn auch sie spüren immer mehr den politischen Druck. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?
Sener: Ich finde die gegenwärtige Haltung der Journalisten dieser Gülen-nahen Zeitungen heuchlerisch und betrügerisch. Als sie noch gute Beziehungen zur AKP-Regierung pflegten, haben sie sich niemals über Korruption beschwert. Ganz im Gegenteil: Als wir darüber schrieben, haben sie uns vorgeworfen, einen Putsch gegen die Regierung zu organisieren. Sie haben uns vorgeworfen, "Terroristen" zu sein. Einige Journalisten sind deshalb tatsächlich verurteilt und inhaftiert worden. Die Gülen-Bewegung sollte zuerst Selbstkritik üben. Wir, die unabhängigen Journalisten, können jeden kritisieren – und darin liegt unsere Macht.
Die vorgezogenen Wahlen in der Türkei am 1. November rücken näher. Glauben Sie, dass sich nach der Wahl etwas ändert?
Sener: Nein. Ich denke, das Ergebnis wird mehr oder weniger gleich ausfallen wie bei der vergangenen Wahl vom 7. Juni. Aber wer wird mit wem eine Koalition bilden? Darüber wird viel mehr diskutiert und spekuliert. Eine Koalition zwischen Erdoğans AKP und der Republikanischen Volkspartei (CHP) ist nicht so wahrscheinlich. Die wahrscheinlichste Option ist, dass die AKP mit der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) eine Koalition bildet.
Das Gespräch führte Basak Özay.
© Qantara.de 2015
Nedim Sener ist einer der renommiertesten Journalisten der Türkei und hat mehr als ein Dutzend Bücher veröffentlicht. Durch seine Recherchen über Korruption, Betrug und Geheimdienste ist er mehrmals mit den türkischen Behörden in Konflikt geraten. 2011 wurde er verhaftet. Der Vorwurf lautete: Er sei ein Mitglied eines terroristischen Geheimbundes namens "Ergenekon" zu sein. Ein Jahr später wurde er aus der Haft entlassen.