Allianz des Schreckens
Die Morde in Paris waren ein barbarischer Akt, ein Verbrechen, das durch nichts zu rechtfertigen ist. Mörder bleiben Mörder. Was sie zu islamistischen Dschihadisten gemacht hat, ist eine andere Frage. Liegen die Gründe ihrer Gewalt in der historischen sozialen Realität oder in der Ideologie des Dschihadismus?
Als Teil einer marginalisierten Gemeinschaft mit nordafrikanischem Migrationshintergrund wuchsen die späteren Attentäter von Paris weitgehend isoliert von der Mehrheitsgesellschaft auf, ohne Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt und ohne die Möglichkeit, gesellschaftspolitisch zu partizipieren. Sie fanden somit Zuflucht in der globalen islamistischen Ideologie und sahen dort die Chance, als "Helden der Geschichte" eine weltverändernde Rolle zu spielen.
Sie sind somit Produkte der postkolonialen Realität Frankreichs, das seine Vergangenheit in den nordafrikanischen Kolonien noch nicht aufgearbeitet hat. Ihre Realität unterscheidet sich kaum von der gesellschaftspolitischen Situation junger Menschen, die in den arabischen Metropolen unter repressiven Regimen leben. Für sie alle bleibt das islamistische Projekt scheinbar das einzige Allheilmittel.
Diese ideologische Konstruktion des Islams als identitätsstiftende Lösung wird gleichzeitig von rechten, rassistischen und islamophoben Bewegungen als verantwortlich für alles Übel auf der Welt dargestellt. Ob bewusst oder unbewusst füllte der Islamismus somit in den letzten Dekaden das nach dem Zusammenbruch des bipolaren Weltsystems entstandene politische Vakuum als Gegenpol zur "freien, zivilisierten westlichen Welt".
Dichotomische Weltbilder
Beide Ideologien setzen fiktive Identitäten voraus, die miteinander einen apokalyptischen Kampf führen, in dem entweder der 'böse' Islamismus besiegt oder die Welt durch den Islam erlöst werden soll.
Leider bleiben diese Konstruktionen nicht nur in den Köpfen, sondern werden immer mehr zur Realität: Auf der einen Seite können wir eine zunehmende Radikalisierung islamistischer Gruppen und Organisationen wie al-Qaida, IS und Boko Haram beobachten; auf der anderen Seite wachsen im Westen rassistische, antiislamische Bewegungen wie "Pegida".
Beide Ideologien profitieren voneinander und legitimieren sich gegenseitig durch die Existenz des jeweiligen Feindes. Gemeinsam ist ihnen das Konstrukt eines "essenziellen", unveränderbaren Islams. Diesbezüglich verstehen sich indoktrinierte Islamisten nicht als gesellschaftliche Akteure, deren Verhalten je nach historischem Kontext veränderbar ist, sondern als die Vollstrecker einer dogmatischen Lehre. Rationale und progressive Teile der islamischen Tradition werden dabei gänzlich ignoriert. Vor dem Hintergrund dieses Konfliktes können die Geschehnisse in Paris verstanden werden.
Die Frage nach der Freiheit der Meinungsäußerung und des künstlerischen Ausdrucks kann daher aus zweierlei Perspektiven diskutiert werden. Aus der europäischen Perspektive bleibt diese historisch gewachsene Freiheit unantastbar.
Dennoch stellt sich hierbei die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Verspottung sakraler Figuren oder Inhalte einer religiösen Gruppe, die gerade in diesem historischen Moment sehr empfindlich und verletzbar zu sein scheint. Wie hoch sind die Kosten und die Risiken im Westen, aber vor allem auch in der arabisch-islamischen Welt, wenn auf solches Verhalten mit Gewalt reagiert wird? Die Opfer dieser Gewalt in der arabischen Welt übersteigen die im Westen um ein Vielfaches – das gilt generell für die Zahl der Opfer des islamistischen Terrors.
Andererseits muss aus der islamisch-arabischen Perspektive gefragt werden, ob heftige, zornige Reaktionen auf Zeichnungen oder Filme, die sonst kaum Aufmerksamkeit erhalten, gerechtfertigt sind.
Respekt gegenüber allen Glaubensgemeinschaften
Die zweite und vielleicht noch wichtigere Frage aber ist: Wird der Respekt gegenüber jedweden religiösen Inhalte eingefordert oder empört man sich nur, wenn es um die Verletzung islamischer Heiligtümer geht? Akzeptiert man die Meinungsfreiheit und toleriert solche Angriffe, weil sie auch gegen Angehörige aller anderen religiösen Gemeinschaften – Buddhisten, Juden, Katholiken oder Atheisten – gerichtet sind? Oder wünscht man sich eine Öffentlichkeit, in der der Freiheit bei der Verletzung religiöser und sonstiger Überzeugungen generell Grenzen gesetzt werden? Und ließe sich das schließlich auch in der arabisch-islamischen Welt anwenden, wo tagtäglich Andersgläubige wie Atheisten und Homosexuelle gesellschaftlich und staatlich diskriminiert werden?
Können die Anschläge von Paris als Chance gewertet werden, um gemeinsam die Frage nach solchen universellen Werten – uneingeschränkte Meinungsfreiheit oder Respekt vor Andersdenkenden – zu beantworten? Wahrscheinlich werden solche Werte nicht durch Verhandlungen, sondern durch die Erfahrungen der Muslime in der Diaspora in Frage gestellt und neu definiert.
Fast zur gleichen Zeit, als in Ägypten ein junger Mann wegen Atheismus zu drei Jahren Haft verurteilt und in Saudi-Arabien ein junger Blogger seine ersten 50 von 1.000 Peitschenhieben wegen Blasphemie bekommen sollte, marschierten die Außenminister der beiden Länder in Paris für die Meinungsfreiheit.
Für eine glaubwürdige Außenpolitik des Westens
In den Gefängnissen des ägyptischen Militärregimes von General Abdel Fattah al-Sisi befinden sich derzeit hunderte politische Gefangene, die nichts verbrochen haben, außer ihre Meinung kundzutun. Viele von ihnen befinden sich wegen langer Hungerstreiks in Lebensgefahr. Al-Sisi wurde vor Kurzem im Elysée-Palast feierlich empfangen.
Genau an diesem Punkt muss man auch als Europäer ansetzen, um wieder Glaubwürdigkeit in der islamischen Welt zu gewinnen. Die Meinungsfreiheit in Europa sollte nicht zwanghaft durch Verspottung von Religionen unter Beweis gestellt werden, vielmehr sollte sie in der arabisch-islamischen Welt erkämpft und unterstützt werden.
Die Attentate auf "Charlie Hebdo" fördern die gesellschaftliche Polarisierung und die gefährliche Allianz zwischen Islamismus und Islamophobie, zwischen Terror und antiterroristischer Sicherheitsideologie.
Es ist deswegen an der Zeit, Solidarität mit den unter Druck gesetzten friedlichen islamischen Gemeinschaften Europas zu zeigen und bewusst gegen Rassismus, Diskriminierung und Pauschalisierung vorzugehen.
Anstatt oberflächlicher Dialoge zwischen Vertretern religiöser Verbände und Gemeinschaften bedarf es einer (selbst)-kritischen und glaubhaften Vorgehensweise gegen soziale Missstände, Marginalisierung und Chancen-Ungleichheit, zum Beispiel was den Zugang von Muslimen zum europäischen Bildungssystem angeht. Das gilt ebenso für die arabischen Länder: Sie benötigen definitiv mehr Schulen und Krankenhäuser, anstatt Waffen und Flugzeugträger, die gegen den Terror eingesetzt werden, aber vor allem weiteren Zündstoff für die Islamisten in ihrem heiligen Krieg bieten.
Auch müssen gängige Diskurse in der muslimischen Welt von den islamischen Verbänden und Autoritäten einer deutlichen Kritik unterzogen werden. Man braucht nur die arabischen Leserkommentare zum Thema "Charlie Hebdo" zu lesen oder in Twitter auf Arabisch dieses Stichwort einzugeben – die Ergebnisse sind oft schockierend. Sie zeugen von religiösem Fanatismus, Verschwörungstheorien, von Gewaltfantasien und Antisemitismus. Auch das sind die diskursiven Realitäten, die jedoch anders klingen als die höfliche Rhetorik des interreligiösen Dialogs.
Atef Botros
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