Vom Antikolonialismus zum globalen Dschihad
Es gibt gegenwärtig kein Phänomen, das mehr Weltöffentlichkeit erfährt, als religiös-politische Bewegungen, die für sich in Anspruch nehmen, im Namen des Islam zu agieren.
Während der religiös inspirierte Befreiungskampf muslimischer Gesellschaften zu Zeiten des Kolonialismus meist nur Spezialisten bekannt war, hat der Sturz des Schah Regimes im Iran durch einen religiösen Führer Ende der 1970er Jahre der Weltöffentlichkeit das revolutionäre Potential und die politische Mobilisierungskraft islamisch inspirierter Agitation vor Augen geführt.
Seither werden nicht nur Regime oder Besatzungsmächte in der muslimischen Welt mit diesem Phänomen konfrontiert, sondern zunehmend auch westliche Länder innerhalb ihrer Staatsgrenzen.
Die Bandbreite dieser Erscheinung reicht von Forderungen, bestimmten Aspekten des Islam eine höhere Präsenz in der Öffentlichkeit einzuräumen, bis hin zu terroristischen Anschlägen, die den Sturz politischer Herrschaftssysteme zum Ziel haben. Dieses Phänomen wird gemeinhin als Islamismus bezeichnet.
Der Konflikt mit den europäischen Kolonialmächten
Der Islamismus der Gegenwart hat seine Wurzeln in der Konfrontation der Muslime mit den europäischen Kolonialmächten. So demonstrierte 1798 die Besetzung Ägyptens durch ein französisches Expeditionsheer muslimischen Führern ihre militärische Unterlegenheit.
Diesen Mangel an militärischer Widerstandskraft haben Muslime rasch als wirtschaftliche, politische und letztendlich auch intellektuelle Rückständigkeit wahrgenommen.
Reformbemühungen beschränkten sich nicht nur darauf, naturwissenschaftliche Kenntnisse Europas zu erwerben, sondern erstreckten sich auch auf die staatliche Verfasstheit muslimischer Staaten.
Reformen des Rechtswesens drängten den Einfluss des islamischen Rechts zurück. Das islamische Stiftungswesen kam unter die Kontrolle einer zentralstaatlichen Bürokratie, infolge dessen unter anderem die muslimischen Gelehrten in direkte staatliche Abhängigkeit geraten sind.
Aufbruch der Salafiyya-Bewegung
Als Reaktion auf diese Ohnmacht gegenüber den europäischen Mächten entstand Ende des 19. Jahrhunderts in Ägypten die als Salafiyya bezeichnete islamische Reformbewegung. Diese Bewegung – sie inspiriert bis heute Islamisten – beruft sich auf die erste Generation von Muslimen, den rechtschaffenden Altvorderen (as-salaf as-salih).
Mit ihrer Zeitschrift al-Manar verbreiteten die beiden Hauptprotagonisten Muhammad Abduh (1849-1905) und Raschid Rida (1865-1935) das ideale Medium ihre reformislamischen Vorstellungen fast überall in der muslimischen Welt.
Ihrer Auffassung zufolge sollte nicht die erste muslimische Gemeinschaft in der Gegenwart kopiert werden, sondern vielmehr als Inspiration zur Überwindung von Erstarrung und Nachahmung der islamischen Lehre dienen.
Die Rückständigkeit muslimischer Gesellschaften liege an ihrem falschen Islamverständnis. Zur Überwindung zeitgenössischer Probleme sei folglich eine Neuinterpretation der islamischen Quellen zwingend erforderlich.
Institutionalisierter Islamismus – die Muslimbruderschaft
Im Gegensatz zur Salafiyya, deren Einfluss ursprünglich weitgehend auf gesellschaftliche Eliten beschränkt war, entstand in den 1920er Jahren mit der Muslimbruderschaft die erste islamistische Massenbewegung.
Bis zu ihrer Verfolgung in den 1950er und 1960er Jahren hatte sich die Muslimbruderschaft in Ägypten zu einem Staat im Staate entwickelt und war bereits in zahlreichen anderen muslimischen Staaten aktiv. Der Erfolg der Muslimbruderschaft beruhte in erste Linie auf ihren sozialpolitischen Aktivitäten.
Hassan al-Banna (1906-1949), Gründer und erster Führer der Muslimbruderschaft, definierte sein Islamverständnis als ein allumfassendes, auf Koran und Sunna beruhendes "islamisches System". Der Islam sei immer und überall anwendbar.
Die Ausformulierung einer stringenten Ideologie blieb al-Banna jedoch weitgehend schuldig. Zentrale Fragen, wie sich ein derartiges "islamisches System" konkret definiert – abgesehen von der Verankerung des islamischen Rechts im öffentlichen Leben – blieben unbeantwortet.
Die systematischste und nachhaltigste Ausformulierung der Ideologie der Muslimbruderschaft blieb dem Ägypter Sayyid Qutb (1906-1966) vorbehalten. Aus der Perspektive eines Gefängnisinsassen radikalisierte sich Qutbs Weltsicht.
Islam, Dschahiliyya und Dschihad
In Anlehnung an den indisch-pakistanischen Denker und Politiker Abu-l-Ala al-Maududi popularisierte er in seinen Schriften eine Reihe von Begriffen, die unbedingte Merkmale einer islamischen Gesellschaft seien. So sei die einzig legitime Herrschaft durch die "Herrschaftsform Gottes" (al-hakimiyya li-llah) gegeben und das "einzig zu huldigende Wesen ist Gott" (al-'ubudiyya li-llah).
Zentral für das Verständnis von Qutb ist der Begriff "Dschahiliyya". Er beschreibt den Zustand vorislamischer Ignoranz. Sie zeichnet sich durch die Übertragung der Herrschaft und der Gesetzgebung auf die Willkür der Menschen aus, anstatt auf Gott und seine Gesetze. Selbst wenn einzelne Mitglieder einer Gesellschaft wahre Muslime seien, befindet sich die Gesamtgesellschaft im verdammenswerten Zustand der Dschahiliyya.
Dieser Zustand kann, laut Qutb, nur durch die Anwendung von Gewalt in Form des Dschihad überwunden werden. Bei Qutb wird er zu einem revolutionären Befreiungskampf. Er ist sowohl Glaubenskrieg, Kampf für Gott, als auch Kampf für die Menschen, deren Errettung aus der Unterdrückung er bewirkt.
Ideologisch lehnen sich zeitgenössische militant islamistische Gruppen an Qutb an. Zentrale Bedeutung hat die Vorstellung vom individuellen Kampf für den Islam bzw. gegen alles Unislamische, der selbst vor unbewaffneten Zivilisten nicht Halt macht.
Der von islamischen Gelehrten durchaus mehrdimensional interpretierte Begriff Dschihad erfährt eine Reduzierung auf einen bewaffneten Kampf, der zudem eine persönliche religiöse Pflicht (fard 'ayn) eines jeden Muslims sei. Attentäter, die sich bereit erklären einen Selbstmordanschlag zu vollziehen, werden durch jenseitige Heilsversprechungen motiviert.
Der Siegeszug der Islamisten
Nachdem sich seit den 1970er Jahren ein Scheitern nationalistischer Modernisierungsprogramme abzeichnete, gerieten die politischen Führungen muslimischer Staaten zunehmend unter den Druck einer islamistischen Opposition, die die Legitimation staatlicher Macht mit religiösen Argumenten in Frage stellte.
Seither nehmen islamische Themen einen beträchtlichen Raum in der öffentlichen politischen Diskussion ein. Dies hatte auf verschiedenen Ebenen Auswirkungen. Zahlreiche Machthaber griffen Politikfelder auf, die bislang von Islamisten besetzt waren.
Zudem wurde im Kampf gegen Islamisten das vom Staat abhängige und von Islamisten verachtete islamische Establishment aufgewertet. In einigen Staaten haben moderate Islamisten die Möglichkeit erhalten, sich als legale und bei freien Wahlen als erfolgreiche Parteien zu konstituieren.
Auf sicherheitspolitischer Ebene verschärfte sich die Konfrontation zwischen Staat und militanten Islamisten. Terroranschläge häuften sich und der Staat reagierte repressiver.
Als Katalysator für diese Entwicklung fungierte der Afghanistankrieg in den 1980er Jahren. Nachdem muslimische Staaten im Laufe des Krieges freiwillige Kämpfer aus ihren Ländern im Kampf gegen die sowjetische Besatzung unterstützten, strömten Tausende ideologisch gefestigte und kampferprobte Mudschahedin in ihre Heimat zurück.
Während sich der militärische Kampf dieser ehemaligen Afghanistankämpfer in den 1990er Jahren noch weitgehend auf nationaler Ebene abspielte, hat der gegenwärtige militante Islamismus eine globale Dimension angenommen.
Globaler Dschihad
Die auf Dauer ausgerichtete Stationierung westlicher Truppen in muslimischen Kernländern, die Unterstützung autoritärer Regime sowie die asymmetrische Entwicklung in Wirtschaft und Politik ist Wasser auf den Mühlen islamistischer Demagogen.
Aus muslimischer Perspektive wird der vom Westen propagierte Kampf gegen den globalen Terrorismus – bei gleichzeitiger Ankündigung, Selbstbestimmung und Demokratie in muslimischen Staaten zu fördern – als Lippenbekenntnis wahrgenommen.
Das westliche Engagement in muslimischen Staaten diene lediglich der Sicherstellung von Rohstoffquellen. Während der Phase des europäischen Kolonialismus diente der durch die Salafiyya Bewegung inspirierte Kampf dazu, nationales Territorium zu befreien.
Heutzutage wird die Bedrohung als global erachtet und legitimiere eine weltumspannende Reaktion. Der bisherige Verlauf des Kampfes gegen den globalen islamistischen Terrorismus hat sich als weitgehend kontraproduktiv erwiesen. Auch stimmen unabhängige Prognosen über die künftige Entwicklung des militanten Islamismus wenig optimistisch.
Franz Kogelmann
© Qantara.de 2006
Dr. Franz Kogelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Bayreuth. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Scharia-Debatten und islamisches Recht in Afrika sowie islamische Bewegungen in Ägypten.
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