Mit gespaltener Zunge
Benjamin Netanjahu ist ein Meister der Propaganda. Das jüngst von ihm veröffentlichte Video belegt es. Es ist ein neuerliches Manifest israelischer Dreistigkeit: Der Abzug der Siedler aus dem Westjordanland (der nie stattfand und vermutlich niemals stattfinden soll) wird mit ethnischer Säuberung gleichgesetzt.
Der Staat, der 1948 selbst eine große Säuberung durchführte und der niemals in seinem tiefsten Inneren den Traum einer Säuberung aufgegeben hat, führt weiterhin ganz methodisch in kleinem Maßstab Säuberungen im Jordantal, auf den Höhen im Süden Hebrons, in der Gegend um Ma'ale Adumim und nicht zu vergessen in der Wüste Negev durch. Dieser Staat also bezeichnet einen Abzug der Siedler als ethnische Säuberung. Israel vergleicht seine Invasoren in den besetzten Gebieten mit den Einheimischen, die mit ihrem Land und ihrer Heimat verwurzelt waren.
Wie Netanjahu die Welt sieht
Netanjahu stellt erneut unter Beweis, dass er der einzig wahre und authentische Vertreter des "Israelischen" ist. Der Vertreter eines Landes, das sich seine eigene Wirklichkeit schafft: Aus Nacht wird Tag. Ohne Scham, ohne Schuldbewusstsein und ohne Skrupel.
Viele denken in Israel genauso – vielleicht sogar die Mehrheit. Die Siedler im Gazastreifen werden zu "Vertriebenen" und ihr Abzug zur "Deportation". Die aggressive und gewaltsame Besiedlung wird damit nicht nur rechtens; die Handelnden werden sogar zu Opfern stilisiert.
Ein israelischer Premierminister, der weniger dreist und arrogant als Netanjahu wäre, würde es angesichts des Balkens in seinem eigenen Auge nicht wagen, das Wort „ethnische Säuberung“ in den Mund zu nehmen. Wohl kaum eine Propagandakampagne ginge derart weit. Doch gelegentlich bricht sich die Wahrheit Bahn.
[embed:render:embedded:node:14453]Und diese Wahrheit ist schmerzhaft: Die einzige massenhafte ethnische Säuberung fand im Jahr 1948 statt. Etwa 700.000 Palästinenser – also die Mehrzahl – wurden gezwungen, ihre Häuser, ihre Habseligkeiten, ihre Dörfer und das Land aufzugeben, das ihnen seit Jahrhunderten gehörte. Einige wurden gewaltsam verjagt, auf Lkw verfrachtet und abtransportiert. Andere wurden unter Druck gesetzt und in die Flucht getrieben. Wiederum andere flohen vorauseilend. Von einigen wenigen Menschen abgesehen, durfte niemand zurückkehren. Nicht einmal, um ihr eigenes Hab und Gut abzuholen.
Schon die Vertreibung war schlimm. Die Verweigerung der Rückkehr noch schlimmer. Sie belegt, dass die Säuberung absichtlich erfolgte. Zwischen Jaffa und Gaza verblieb nicht eine einzige arabische Gemeinde. Alle übrigen Gebiete werden von den Ruinen der ehemaligen Ansiedlungen wie Narben durchzogen. Das und nichts anderes versteht man unter ethnischer Säuberung. Mehr als 400 Dörfer und Städte verschwanden vom Erdboden. Ihre Ruinen wurden bedeckt mit jüdischen Siedlungen, Wäldern, Lug und Trug. Die Wahrheit wurde vor den israelischen Juden versteckt. Die Hinterbliebenen der Deportierten durften nicht daran erinnern. Kein Mahnmal und kein Grabstein, um Jewgeni Jewtuschenko zu paraphrasieren.
Klarer Rechtsbruch
Die Zahl der Siedler übersteigt heute die der damals Vertriebenen. Sie besetzten ein Land, das ihnen nicht gehörte. Sie taten es mit Unterstützung mehrerer israelischer Regierungen und gegen den Einspruch der gesamten Welt. Und sie wussten, dass ihr Unterfangen auf Eis gebaut war. Sie und die israelische Regierung verstießen nicht nur ungeniert gegen internationales Recht. Das wird in Israel ohnehin mit Füßen getreten. Sie brachen auch israelisches Recht – und zwar mit Unterstützung einer willfährigen Justiz.
Landraub verstößt gegen geltendes Recht in Israel und in den besetzten Gebieten. Doch kaum haben sich die Israelis und die übrige Welt mit der Situation arrangiert und diese als unvermeidlich akzeptiert, schon legt der Premier die Latte ein Stückchen höher: Die Siedler sind die eigentlichen Opfer. Nicht die von den Siedlern vertriebenen und beraubten Menschen. Kein Hindernis sind in Netanjahus Welt die Siedlungen, die allein dazu errichtet wurden, mögliche Abkommen mit den Palästinensern zu blockieren. Vielmehr vergleicht er sie mit den palästinensischen Restposten in Israel – den letzten Überlebenden (She'erit Hapletah), um einen Begriff aus der Hinterlassenschaft des Holocaust zu entleihen.
Sprache lässt sich zu beliebigen Zwecken verbiegen und Propaganda lässt sich für jede moralische Perversion nutzen. Lebe wohl, Wirklichkeit! Hier wirst du nicht mehr gebraucht. Worum geht es denn eigentlich? Kaum jemand in Israel oder anderswo weiß es: Wenige Tage nach Veröffentlichung des Videos unterzeichneten die USA einen Vertrag über die Zahlung von 38 Milliarden US-Dollar Militärhilfe an Israel für die nächsten zehn Jahre. Der Löwenanteil dieser Mittel ist zur Verteidigung und Sicherung der Siedlungen im Westjordanland vorgesehen.
Ethnische Säuberung oder nicht. Alles weist darauf hin, dass die Siedlungen bleiben werden. Amerika zahlt schließlich die Rechnung.
Gideon Levy
© Qantara.de 2016
Gideon Levy ist ein israelischer Journalist und Autor. Levy schreibt Leitartikel und eine wöchentliche Kolumne für die Tageszeitung "Haaretz". Die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete ist eines seiner Schwerpunktthemen.
Aus dem Englischen von Peter Lammers