Bedroht und alleingelassen

In den vergangenen Monaten wurde Afghanistan von einer Welle gezielter Tötungen von Bürgerrechtlern und Journalisten erschüttert. Mujeeb Khalvatgar, Direktor der Nichtregierungsorganisation “NAI - Supporting Open Media in Afghanistan” spricht mit Marian Brehmer über die schwierige Situation des afghanischen Journalismus.

Von Marian Brehmer

In den letzten 75 Tagen sind in Afghanistan sechs Journalisten ermordet worden. Wer steht hinter dieser neuen Welle der Gewalt?

Mujeeb Khalvatgar: Während die Friedensverhandlungen mit den Taliban weiterlaufen, haben Angriffe auf weiche Ziele im ganzen Land zugenommen. Diese Strategie ist nicht neu; aber seit 19 Jahren hat die afghanische Regierung nichts getan, um solche Gewalttaten ernsthaft aufzuklären und zu verfolgen. Diesmal hat die Regierung die Taliban für die Taten verantwortlich gemacht und damit die Fälle politisiert. Außerdem wurden nur vage Informationen über die Vorfälle herausgegeben, die es unmöglich machen die Hintergründe zu verstehen. Wir glauben, dass bisher nicht richtig ermittelt und die wahren Täter noch gar nicht identifiziert, geschweige denn verhaftet wurden.

Wie erklären Sie sich diesen massiven Anstieg von Gewalt gegen Journalisten?

Khalvatgar: Bewaffnete Gruppen wie der IS und die Taliban scheren sich nicht um die Menschenrechte, zu denen auch die Pressefreiheit gehört. Unsere Journalisten sind professioneller darin geworden, die Hintergründe hinter den Verbrechen der Taliban aufzudecken und die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen an den Pranger zu stellen. Die Extremisten sorgen sich um ihr Image in den afghanischen Medien, weshalb sie alles unternehmen, um Journalisten Angst einzujagen, damit sie ihre Arbeit einstellen.

In der Vergangenheit gab es größere Bombenanschläge gegen Medienschaffende, wie zum Beispiel im April 2018, als zehn Journalisten bei einem Selbstmordanschlag in Kabul getötet wurden. Was können Journalisten tun, um sich gegen solche Attacken zu schützen?

Khalvatgar: Es gibt Maßnahmen, um solche Ereignisse zu verhindern. Journalisten sollten sich schützen, indem sie Helme und schusssichere Westen tragen. Der Geheimdienst muss Drohungen gegen Journalisten an die Medienunternehmen weitergeben. Zudem sollte die afghanische Regierung spezielle Sicherheitstrainings für Journalisten anbieten, die vom afghanischen Militär und Sicherheitspersonal durchgeführt werden müssen. Dazu sollte auch eine Post-Trauma-Schulung gehören. Jedoch haben wir noch keine Schritte in diese Richtung gesehen.

Afghanistan: Beerdigung der Journalistin Malalai Maiwand. Foto: Parwiz/ Reuters
Trauerfeier und Beerdigung der ermordeten TV-Journalistin Malala Maiwand: Die Fernsehmoderatorin und Talk-Show-Gastgeberin wurde auf dem Weg in ihr Büro in der ostafghanischen Stadt Dschalalabad am 10.12.2020 in ihrem Auto von Bewaffneten angegriffen. Ende 2020 hat sich die gefährliche Lage für Medienschaffende in Afghanistan wieder verschärft:

Wie erklären Sie sich die Unfähigkeit der Regierung, sichere Arbeitsbedingungen für afghanische Journalisten zu gewährleisten?

Khalvatgar: Zuallererst existiert kein wirklicher Wille, die Meinungsfreiheit voranzutreiben. Wenn Sie mich fragen, so ist unsere aktuelle Regierung gescheitert. Afghanische Medien berichten sehr kritisch über die jetzige Regierung, deshalb ist sie in gewisser Weise froh, wenn es mit dem afghanischen Journalismus bergab geht.

Auf internationaler Ebene behauptet die afghanische Regierung, dass Meinungsfreiheit zu ihren größten Errungenschaften gehöre. Doch tatsächlich stimmt das Gegenteil. Die Regierung tut nichts dafür, dass Journalisten in einem sicheren Umfeld recherchieren können. Nicht nur das: Die Regierungsbehörden versorgen uns nicht mit ausreichend Informationen, damit wir professionell arbeiten können. Deshalb gibt es weniger investigativen Journalismus in den afghanischen Medien.

Was meinen Sie damit, die Regierungsbehörden „versorgen uns nicht mit ausreichend Informationen”?

Khalvatgar: Die Regierung spielt ein Spiel mit dem Mediensektor, indem sie alle möglichen Formen von Druck auf die Medien ausübt und die Meinungsfreiheit einschränkt. Wenn Journalisten kein sicheres Arbeitsumfeld haben, dann müssen sie Selbstzensur betreiben. Das Zurückhalten von Informationen durch die Regierungsbehörden ist eine weitere Form von Zensur. Obgleich unser Präsident das Gesetz zum Zugang zu Informationen unterschrieben hat, den “Access to Information Bill”, verschlechtert sich unser Zugang zu Informationen stetig. Außerdem gibt es Vorfälle von Bestechung und Korruption bei den Regierungsbehörden. Oder aber Geheimdienstoffiziere versuchen, die Berichterstattung zu beeinflussen. Manche von ihnen pflegen enge Beziehungen zu gewissen Medien.

Was motiviert afghanische Journalisten, all diesen Widrigkeiten zum Trotz weiterzumachen?

Khalvatgar: Obgleich die mangelnde Sicherheit die Arbeitsmoral beeinträchtigt, sind viele von uns nach wie vor motiviert, hart und kritisch zu arbeiten. Trotz der fehlenden Unterstützung für die Medien gibt es zahlreiche Journalisten, die viel Energie in ihre Arbeit stecken und sich den Glauben an ihre Arbeit und an die Zukunft des Landes erhalten haben, selbst im Angesicht von Todesdrohungen. Im Großen und Ganzen begegnet die Gesellschaft den Journalisten mit Respekt. Nach den Anschlägen im Jahr 2018 etwa gab es Aufklärungskampagnen über die Lage des afghanischen Journalismus, im Zuge derer uns viele Menschen kontaktiert haben. Es ist wichtig für uns, diese Rückendeckung in unserer Arbeit zu spüren.

Mujeeb Khalvatgar, Direktor der Nichtregierungsorganisation “NAI - Supporting Open Media in Afghanistan”. Foto: privat
Mujeeb Khalvatgar, Direktor der Nichtregierungsorganisation “NAI - Supporting Open Media in Afghanistan”: „Die Zukunft des Journalismus hängt von verschiedenen Faktoren ab: Wenn die internationale Gemeinschaft — vor allem die USA — Druck auf die Taliban ausüben, damit sie aufhören, weiche Ziele, insbesondere Journalisten, anzugreifen und die afghanische Regierung dazu drängen, die Gewalttaten zu untersuchen, wird es ein sichereres Umfeld für Journalisten geben.“

Aufständische Gruppen wie die Taliban greifen einerseits die Medien an und gleichzeitig betreiben sie auch ihre eigenen Medien, um Propaganda zu verbreiten.

Khalvatgar: Unter dem Regime der Taliban gab es nur einen einzigen Radiosender, die “Stimme der Scharia”. Seit 2007 haben die Taliban ihre Rundfunkaktivitäten wieder aufgenommen. Jetzt betreiben sie Radiosender in den südlichen Provinzen Kandahar und Zabol. Selbst in der Stadt Ghazni südwestlich von Kabul haben sie einen Sender für ihre Propaganda etabliert. Zudem nutzen sie soziale Medien. Das ist möglich aufgrund von Mängeln in der afghanischen Mediengesetzgebung: Es gibt keine standardisierte Regelung für den Erwerb von Medien. Jeder darf seinen eigenen Kanal eröffnen. Warlords nutzen diese Möglichkeit und betreiben Fernsehkanäle, um ihr blutgetränktes Image reinzuwaschen und neue Anhänger zu gewinnen.

Gibt es in dieser schwierigen Situation des afghanischen Journalismus auch etwas, das Ihnen Hoffnung bereitet?

Khalvatgar: Eine positive Entwicklung liegt darin, dass Frauen heute in den Medien präsenter sind. In den letzten Jahren hat eine große Zahl von afghanischen Frauen die Journalistenschulen absolviert und eine professionelle Medienausbildung erhalten. Während wir als Journalisten mit Unsicherheit leben müssen, ist die Gesellschaft kulturell offener geworden, sodass Frauen leichter ihren Karrieren nachgehen können — zumindest in den Städten. In manchen Fällen sind es Frauen, die zur Arbeit geschickt werden, weil die Männer in der Familie tot sind. In anderen Fällen sind es hochmotivierte junge Profis, die wirklich etwas bewirken wollen. Leider hört man wenig von solchen Geschichten in den westlichen Medien. Der Fokus bleibt meist auf der Gewalt im Land.

Wie sehen Sie angesichts des aktuellen Klimas der Angst die Zukunft des afghanischen Journalismus?

Khalvatgar: Ich denke, die Zukunft des Journalismus hängt von verschiedenen Faktoren ab: Wenn die internationale Gemeinschaft — vor allem die USA — Druck auf die Taliban ausüben, damit sie aufhören, weiche Ziele, insbesondere Journalisten, anzugreifen und die afghanische Regierung dazu drängen, die Gewalttaten zu untersuchen, wird es ein sichereres Umfeld für Journalisten geben.

Andernfalls wird es nur noch schlimmer werden. Die Regierung, der Präsident und die entsprechenden Sicherheitsbehörden sollten ihren Willen, die Gewalt gegen Journalisten umfassend zu untersuchen, unter Beweis stellen. Außerdem müssen sie zugeben, dass alles, was bisher dazu an die Öffentlichkeit gelangte, nur dazu diente, den Mediensektor zu beruhigen.

Marian Brehmer

© Qantara.de 2021

Mujeeb Khalvatgar, erfahrener Radiojournalist und Medienaktivist, ist Direktor der Organisation “NAI - Supporting Open Media in Afghanistan”. NAI bietet Journalismus-Kurse an und betreibt Lobbyarbeit, um die Arbeitsbedingungen von Journalisten in Afghanistan zu verbessern.