"Die Mosaiksteinchen sind in Bewegung geraten"
Sezgin stapft an diesem regnerischen Wintertag durch den Gezi-Park in Istanbul und schaut sich um. Er ist einer der jungen Leute, die im Sommer 2013 für den Erhalt des Parks und gegen die türkische Regierung demonstriert hatten. Der zierliche Mann hat sich dick in seinen grünen Parka eingemummelt, die Haare sind zu einem Zopf gebunden, die Augen tasten ruhelos die Umgebung ab.
"Das war so schön im Sommer", sagt er. Schön? Es gab sechs Tote zu beklagen und mehr als 8.000 Verletzte. Die Polizei hatte in jenen Tagen des Protests unverhältnismäßig hart eingegriffen. Es gab unzählige Verhaftungen und Anklagen, selbst Ärzte, Anwälte und Apotheker, die den Demonstranten geholfen hatten, wurden gerichtlich verfolgt. Viele der Inhaftierten wissen bis heute nicht, was man ihnen vorwirft.
Veränderungen sind möglich
Warum also "schön"? "Weil wir das erste Mal erlebt haben, was Mitbestimmung und Solidarität ist", sagt Sezgin. Tatsächlich erlebte die junge Generation in diesem Sommer des Protests in der Türkei zum ersten Mal, dass es möglich ist, Veränderungen anzustoßen.
Viele der älteren Generation zeigten sich solidarisch. Auf einmal war egal, woher man kam und wer man ist. Es herrschte ein Gefühl der Freiheit und des Zusammenhalts, das die jungen Menschen in der Türkei so noch nicht erlebt hatten. Der Gezi-Park wurde schließlich nicht umgebaut. Ein Recht auf persönliche Freiheit und Partizipation – das ist es, was sich Sezgin und die vielen anderen Mitstreiter wünschen.So stellen sie sich Europa vor. Darum möchten sie reisen, ein Auslandssemester absolvieren oder für immer auswandern. Auch Sezgin möchte raus aus der Türkei.
Wunsch nach europäischen Verhältnissen
Er ist Englischlehrer, hat aber keine feste Anstellung, jobbt mal in einem Buchladen oder bietet Führungen durch Ausstellungen an. Am liebsten würde er mit dem Fahrrad durch Europa reisen. Doch dass er das dafür notwendige Visum erhält, ist unwahrscheinlich.
Obwohl das Image der Europäischen Union zurzeit wegen ihrer Grenzpolitik und der Wirtschaftslage auch in der Türkei angekratzt ist und der Zuspruch zu einem EU-Beitritt abgenommen hat, sehnen sich doch viele Türken nach ähnlichen Lebensbedingungen wie in Europa.
Dass die junge Generation so ist, wie Europa sich die Türkei wünscht, hat sich im Sommer gezeigt hat: demokratisch, mutig, tolerant, solidarisch. Jetzt, mit dem Auffliegen der Schmiergeldaffären, erhebt die Europäische Union erneut den Zeigefinger: "Passt auf, sonst kommt ihr nicht rein!". Doch in der Türkei hat man gegenwärtig ganz andere Sorgen.
Die neue Unübersichtlichkeit
Derzeit diskutieren alle über die mit viel Geld gefüllten Schuhkartons, die im Haus des Direktors der staatlichen Halk-Bank gefunden wurden, über einen mit Waffen beladenen LKW auf dem Weg nach Syrien, darüber, dass in dem Wasser der Wasserwerfer, die im Sommer die Demonstranten von den Straßen fegten, sehr wohl CS-Gas war, obwohl das von staatlicher Seite stets bestritten wurde. Und über all die anderen Korruptionsaffären, Intrigen und Verschwörungstheorien, die niemand mehr durchschaut.
Die Skandale um die Regierung sind jedoch zu wenig greifbar und die grassierende Korruption in dem Land ist auch nichts Neues. Deshalb sitzen viele junge Menschen jetzt wieder in aller Ruhe in den Straßencafés beim Tee. In der Türkei scheint die Aufregung um den Gezi-Sommer verpufft zu sein.
Geht man die Istiklal-Straße im Herzen Istanbuls entlang, die große Einkaufsstraße, die zum Taksim-Platz führt, bekommt man den Eindruck, dass sich die jungen Menschen wieder ihren privaten Alltagssorgen zugewandt haben. Es gibt keine großen Demonstrationen mehr.
Doch ganz verschwunden sind sie nicht. Sie sind nur kleiner geworden und das Polizeiaufgebot ist jedes Mal immens groß. Der Regierung ist es gelungen, die Menschen einzuschüchtern. Sie haben Angst vor den Schlagstöcken, Angst davor, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, eingesperrt zu werden und Jahre in Untersuchungshaft zu sitzen. Sie fürchten ihr Stipendium für die Universität oder ihren Platz in einem Studentenwohnheim zu verlieren – denn sie kennen Dutzende, denen es so ergangen ist. Doch das ist nur die eine Seite, die offensichtliche, die von Europa aus beobachtbare.
Die andere Seite ist schwerer zu erkennen. "Eigentlich ist die Regierung gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist es, dass wir uns selbst auf den Weg bringen." Sezgin will nach Kadiköy, einem Stadtteil auf der asiatischen Seite der Stadt. Dort haben vor einigen Monaten junge Menschen zum ersten Mal ein Haus besetzt, und daraus ein Kulturzentrum gemacht.
Gewachsenes soziales Engagement
Doch nicht nur in Istanbul, sondern auch in anderen Teilen des Landes sind Gruppen entstanden, die sich um den Erhalt eines Stadtviertels kümmern, die den Erdbebenopfern in Van Kleiderspenden bringen, die Dokumentarfilme drehen.
Insgesamt engagiert sich die junge Generation viel mehr, als früher. Zwar gab es auch vor den Protesten Hilfsorganisationen, die sich etwa um Vergewaltigungsopfer kümmern, die gegen die Diskriminierung der Homo- und Transsexuellen aufbegehren oder die für den Erhalt des Waldbestandes im Norden von Istanbul eintreten, der zum Teil dem Bau der dritten Bosporusbrücke weichen soll. Doch der Anlass zur Aufregung ist seit vergangenem Sommer größer geworden und das Engagement, das der Aufregung folgt, ebenfalls.
Was hat das alles mit Europa zu tun? Viel. Denn es zeigt sich, dass die jungen Menschen sich in ihren Wünschen und Ansprüchen nicht von jenen in Deutschland, Italien, Polen oder woanders in der EU unterscheiden. Sie haben angefangen, sich mit der eigenen Lage auseinanderzusetzen, und wünschen sich die gleichen Chancen, wie junge EU-Bürger sie haben.
"Wir müssen uns selbst etwas Gutes tun", meint Sezgin. "Von der Politik kann man ja nichts erwarten, wie man sieht." Deshalb fährt er jetzt, wenn er Zeit hat, in einen Garten außerhalb der Stadt, und harkt mit einer Gruppe Gleichgesinnter die kleinen Beete um und lässt sich erklären, wie man Dünger selbst herstellen kann, auch auf dem eigenen Balkon zuhause.
Das Bild der jungen Generation hat sich gewandelt. Man sieht Frauen und Männer, die überall in Europa zuhause sein könnten, die ihre Stadt und ihr Land lieben, sich aber auch wünschen, dass sich etwas ändert.
Mit kleinen Schritten gegen den Bauwahn
Sie haben genug von größenwahnsinnigen Bauprojekten, möchten ihre Meinung frei äußern, demonstrieren und nach ihren eigenen Vorstellungen leben. Und sie sehnen sich nach Natur und einem angemessenen Lebensstandard, nach Gemeinschaft und einfach nach Ruhe.
Deshalb gründen sie neue Gruppen, in denen sie über Gleichberechtigung diskutieren, über Nachbarschaftshilfe, über das Pflanzen von Setzlingen auf einem kleinen Grünstreifen.
"Die Mosaiksteinchen sind in Bewegung geraten, Erdogan versucht sie irgendwie zu fixieren", sagte der türkischstämmige Schriftsteller Zafer Senocak einmal. Doch der Plan scheint nicht aufzugehen, der Geist von Gezi ist der Geist von Europa. Und den bekommt man nicht wieder zurück in die Flasche, auch nicht mit Gewalt.
Für Mitte Januar ist eine große Versammlung in einem Kulturzentrum in Kadiköy geplant, um gemeinsam zu diskutieren, wie man gegen Bauwahnsinn, Bevormundung und staatliche Repression im Kleinen tun kann. Sezgin wird hingehen.
Anna Esser
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de