Der Kopf der Schlange
Panikartig verlassen die Einwohner Falludscha. Zu tausenden fliehen sie aus der Stadt. Sie fliehen überall hin. Nichts wie raus hier, lautet die Parole. Hilfsorganisationen haben Zeltstädte aufgebaut, in der Umgebung, aber auch weiter entfernt. Manche Flüchtlinge seien derart traumatisiert, dass sie hastig immer weitereilen, erzählen Helfer – stets mit der Angst im Nacken, sie würden verfolgt und umgebracht werden.
Nicht wenige kommen in dem fast völlig zerstörten Ramadi an, das 40 Kilometer von Falludscha entfernt liegt und erst seit letztem März als tatsächlich von der Terrormiliz IS befreit gilt. Man hört in letzter Zeit immer häufiger, dass die meisten der Fliehenden ziemlich ausgehungert seien.
Seit Februar hatte die irakische Armee einen Belagerungsring um Falludscha gezogen, der nichts durchließ, auch keine Lebensmittel. Die Strategie hieß Aushungern. Die Bewohner Falludschas sollten selbst gegen den IS aufbegehren. Doch das Kalkül ging nicht auf. Die brutalen Dschihadisten metzelten alle nieder, die sich ihnen in den Weg stellten. Das von irakischen Soldaten gefundene Massengrab in einem Vorort von Falludscha beweist es.
Aushungern als militärische Strategie
Der Hunger wurde bedrohlich, die ersten Menschen starben an Unterernährung. Sie hätten zum Schluss nur noch getrocknete Datteln gehabt, erzählen einige. Im April zählten sie fast 200 Hungertote. Der politische Druck wuchs. Iraks schiitischer Premier Haider al-Abadi musste sich den Vorwurf gefallen lassen, die mehrheitlich von Sunniten bewohnte Stadt bewusst auszuhungern. Schließlich gab er Ende Mai den Befehl zum Angriff.
Doch es sollte fast einen Monat dauern, bis die Armee in Falludscha einrückte, nachdem zehrende Stellungskämpfe im Umfeld der größten Stadt in der Provinz Anbar zunächst keine Fortschritte brachten. Doch obwohl die Armeeführung und auch der Premier verkünden, Falludscha sei inzwischen zu 90 Prozent befreit, fliehen die Menschen immer noch massenhaft aus ihrer Stadt. Stimmt nicht, sagen die Amerikaner. Falludscha sei lediglich zu einem Drittel in der Hand der Regierungstruppen, so ein Pentagon-Sprecher in Washington.
Doch die Kontroversen um dieKoeffizienten der Rückeroberung sind nicht das Ausschlaggebende, dass mittlerweile 65.000 Menschen aus Falludscha weggegangen sind. Es ist die Reaktion auf die monatelange Belagerung, weshalb es die Menschen nach dem Öffnen der Tore nach draußen zieht. Hinzu kommt ein abgrundtiefes Misstrauen, das die Mehrheit der einst 350.000 Einwohner Falludschas mittlerweile gegen alle und jeden hegt. "Die meisten von uns wollen nur noch weg", berichten Flüchtlinge aus Falludscha in Ramadi, "weg und nie mehr zurück". Sie schätzen, dass noch etwa 30.000 in Falludscha verblieben sind.
Der Kopf der Schlange wird Falludscha von vielen Irakern sinnbildlich genannt, denn es war hier, wo der Siegeszug der Dschihadisten im Irak begann. Ende Januar 2014 patrouillierten sie durch die Stadt, hissten ihre schwarzen Fahnen auf allen öffentlichen Gebäuden und setzten alsbald einen Statthalter ein.
Honeymoon in Falludscha
Die Stadt der Moscheen wurde zur ersten IS-Hochburg, zur ersten Brutstätte der Scharia-Ideologie, zum Kernland des Kalifats – nur 50 Kilometer von der Hauptstadt Bagdad entfernt.
Als Falludscha in die Hände von "Daesh" fiel, dauerte es noch fünf Monate ehe die Gotteskrieger Mossul und Tikrit überrollten. In Falludscha wurden Selbstmordattentäter geschult und nach Bagdad und den Rest Iraks geschickt, Werkstätten zum Bombenbauen errichtet, Uniformen für die Kämpfer genäht. Von Falludscha aus wurden Versorgungswege nach Syrien begründet und nach und nach die gesamte Provinz Anbar erobert. Zeitweise fühlten sich die finsteren Gesellen so sicher, dass sie ihre Kämpfer dorthin auf Hochzeitsreise schickten: Honeymoon in Falludscha.
In den Jahren zuvor war Falludscha Zentrum des sunnitischen Widerstands gegen die Nachkriegsordnung im Irak. Die Sunniten wehrten sich gegen die systematische Diskriminierung, die sie während der Regierungszeit des Schiiten Nuri al-Maliki zu erleiden hatten. Die Dschihadisten galten ihnen zunächst als Verbündete. Doch bald merkten die Sunniten, dass die Gotteskrieger ganz andere Ziele verfolgten, als sie anfangs vermutet hatten.
Bis heute kann man nicht sagen, dass der IS Falludscha gänzlich verloren hat, auch wenn die Befreier schon mitten ins Zentrum der Stadt vorgedrungen sind und heute wieder die irakische Fahne auf dem Sitz der Stadtverwaltung und des Krankenhauses weht. Denn ob die Terrormiliz gänzlich aus der Stadt vertrieben wird und in Falludscha eine urbane Normalität wiederhergestellt werden kann, hängt nicht allein von der militärischen Stärke der Anti-IS-Allianz ab.
Neue Perspektiven notwendig
Beobachter der Entwicklungen im Irak sind sich einig, dass ohne eine ernst zu nehmende politische Strategie ein militärischer Sieg keinen dauerhaften Bestand habe. Die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad muss den Sunniten von Falludscha und darüber hinaus eine Perspektive anbieten, die sie überzeugt, in ihre Städte zurückzukehren, sie wieder aufzubauen und auf Augenhöhe teilzuhaben am politischen Prozess im Land. Ansonsten besteht das Risiko, dass die Menschen erneut in die Hände des IS fallen, der sich ohnehin als Rächer der Sunniten ausgibt.
Möglich ist die Befreiung Falludschas, auch wenn sie länger dauern wird, als von der irakischen Regierung prophezeit. Der Militärchef des IS, Abu Wahib, auch Emir von Anbar genannt, ist tot und mit ihm über 1.000 weitere IS-Kämpfer. Das Zusammenspiel zwischen irakischer Armee, sunnitischen Stammesführern, Schiitenmilizen und den Amerikanern hat sich offensichtlich deutlich verbessert. Das gemeinsame Oberkommando funktioniert. Aber die ausschlaggebende Frage wird sein, was die Befreier mit den Befreiten machen. Werden die Schiiten Rache nehmen an den Sunniten von Anbar, die sie nur allzu oft als IS-Sympathisanten abstempeln?
Die Wunden des Bürgerkriegs von 2006/07 und 2008, als schiitische und sunnitische Iraker sich gegenseitig umbrachten, sind noch nicht verheilt. Die Narben drohen aufzubrechen. Das Beispiel Ramadi ist zur Drohkulisse geworden, die auch die Einwohner Falludschas in Angst und Schrecken versetzt.
Als die vielen Flüchtlinge vor den Kämpfen in der Provinzhauptstadt Anfang des Jahres in Richtung Süden flohen und an den Grenzen der Provinz Kerbela ankamen, warteten in Razaza rachehungrige schiitische Milizionäre auf sie, nahmen vor allem die Männer in Geiselhaft, unterstellten ihnen gemeinsame Sache mit dem IS und verlangten Lösegeld für ihre Freilassung.
Birgit Svensson
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