Québecs umstrittenes Säkularismusgesetz auf dem Prüfstand
Sowohl in Frankreich als auch in Kanada führen Gesetze, die eigentlich eine friedliche, besser repräsentierte Gesellschaft schaffen sollten, zu einer Atmosphäre von Misstrauen und Hass. In Québec wurden erkennbare religiöse Minderheiten, vor allem Sikhs, Juden und Muslime, als ’abweichend’ von der Norm eingestuft und dadurch noch stärker herausgehoben.
Wer in Québec oder in Frankreich einen Hidschāb, eine Kippa oder einen Turban trägt, wird nicht wirklich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft betrachtet.
Während Frankreich auf eine lange laizistische Tradition zurückblicken kann, die bis zur Revolution 1789 zurückreicht, verhält es sich in Québec genau andersherum. Erst in den frühen 1960er Jahren unterstützte eine neue Generation von Québecer Intellektuellen und Politikern (darunter der ehemalige Premierminister Pierre Trudeau und der ehemalige Premierminister und Nationalist René Lévesque) die sogenannte Stille Revolution.
Der Nationalismus in Québec war insbesondere unter Lévesque anfangs weitgehend sozialistisch geprägt. Lévesque wurde 1976 als Führer der Parti Québécois (PQ) mit dem erklärten Ziel Premierminister, die Provinz Québecs von Kanada als unabhängigen Staat abzuspalten.
Im Laufe der Jahre änderte sich das: Jacques Parizeau, der letzte PQ-Führer, der ein Unabhängigkeitsreferendum ansetzte, machte die Einwanderer für sein Scheitern verantwortlich.
Die 'Vorbehaltsklausel'
Wohlwissend, dass ihr neues Gesetz diskriminierend sein würde, und zur Abwendung gerichtlicher Anfechtungen wegen des Verstoßes gegen die Kanadische Charta der Rechte und Freiheiten, berief sich die Regierung von Québec unter der Leitung ihres Premierministers François Legault auf Artikel 33 der kanadischen Verfassung.
Der als Vorbehaltsklausel bezeichnete Artikel 33 ermöglicht die Verabschiedung eines Gesetzes, auch wenn es gegen die Charta verstößt. Die Anwendung der Vorbehaltsklausel ist nur dann ausgeschlossen, falls ein Gesetz in die demokratischen Rechte, die Rechte auf Mobilität oder die Sprachenfreiheit eingreift.
Prognosen zum Ausgang des Gerichtsverfahrens, das Anfang November von verschiedenen Bürgerrechtsgruppen in Québec eingeleitet wurde, fallen schwer. Es wird voraussichtlich wochenlang dauern und dürfte letztinstanzlich vor dem Obersten Gerichtshof Kanadas landen. Den Klägern ist es nicht gestattet, sich auf die Charta der Rechte und Freiheiten zu stützen oder die verfassungsmäßige Gültigkeit des Gesetzes anzufechten. Vielmehr müssen sie den Beweis erbringen, dass das Gesetz den Klägern die Möglichkeit nimmt, aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen am öffentlichen Leben teilzunehmen.
Die Regierung wird ihrerseits dagegenhalten, dass die Legislative das Recht hat, den Willen des Volkes gesetzlich zu kodifizieren. In diesem Fall unterstützt eine Mehrheit der Quebecer tatsächlich das neue Gesetz. Außerdem werden sie darauf verweisen, dass das Gesetz notwendig sei, um das ständige Unbehagen über „religiösen Pluralismus und den Platz von Religion im zivilgesellschaftlichen Raum“ zu beseitigen.
Ein gefährlicher Präzedenzfall
Die Kläger rekrutieren sich in diesem Fall aus vier verschiedenen Gruppen, darunter der Nationale Rat der Muslime und die multireligiöse Gruppe Coalition Inclusion Québec. Sie treten der Regierung mit dem Argument entgegen, das Gesetz schaffe einen gefährlichen Präzedenzfall.
Wenn eine Regierung Angehörige von Religionsgemeinschaften von bestimmten Arbeitsplätzen ausschließen kann, was sollte dann künftige Regierungen davon abhalten, ein ähnliches Gesetz zu erlassen, das anderen Minderheiten, beispielsweise Mitgliedern der LGBTQ-Community, den Zugang zum Lehrerberuf versperrt?
In der ersten Prozesswoche hörte das Gericht Zeugen, die die Auswirkungen des Gesetzes auf ihr Leben schilderten. Sowohl Muslime als auch Sikhs, die als Lehrkräfte tätig sind, berichteten, wie das Verbot sie entweder ihren Arbeitsplatz oder ihre Beförderung kostete und wie sie so dazu veranlasste wurden, die Provinz Québec, in der sie geboren wurden, auf der Suche nach Arbeit zu verlassen. Hierzu muss man wissen, dass Lehrer, die bereits angestellt sind, ihre religiösen Symbole weiter tragen dürfen, solange sie nicht die Schule wechseln oder Beförderungen annehmen.
Muslimische Frauen gaben zudem vor Gericht an, sie trügen den Hidschāb freiwillig und betrachteten ihn als Symbol der Selbstbestimmung. Damit traten sie den Behauptungen der Regierung entgegen, der Hidschāb sei ein Zeichen der Unterdrückung. Bouchera Chelbi, eine Grundschullehrerin in Montreal, Québec, gab zu Protokoll, dass sie durch Tragen des Hidschāb ihren Schülerinnen und Schülern genauso wenig eine Weltanschauung aufdränge wie eine Person, die hohe Absätze trägt.
Das Gericht hörte auch den Sachverständigen Thomas Dee vom pädagogischen Institut der Universität Stanford zu der Frage, inwiefern sich das Verbot nachteilig auf das Bildungssystem auswirken werde.
Erstens, so hieß es, werde damit die Botschaft an Mitglieder von Minderheiten gesendet, sie seien im Schulsystem nicht willkommen.
Zweitens werde sich das Gesetz auch auf weiße Studierende auswirken, da diese den zur Demokratie gehörigen Pluralismus nicht erleben können.
Wo Säkularismus endet und Diskriminierung beginnt
Dass der Prozess in derselben Woche begann, in der Frankreich von einem weiteren Terroranschlag erschüttert wurde, nämlich der Enthauptung des Lehrers Samuel Paty, nachdem dieser in seiner Klasse eine Mohammed-Karikatur gezeigt hatte, macht den Prozess noch schwieriger.
Obwohl der Angriff nichts mit dem Geschehen in Québec zu tun hat – die einzigen Terroranschläge in Québec waren in den 1970er Jahren gegen Muslime oder von Quebecer Nationalisten verübt worden – versuchte Premier Legault, beides als Rechtfertigung für sein neues Gesetz in Zusammenhang zu bringen.
Auch Kanadas Premierminister Justin Trudeau verurteilte den Angriff. Macron griff hier allerdings nicht zum Telefon, da Trudeau angedeutet hatte, es gebe Grenzen für das, was als Redefreiheit bezeichnet werden könne. (In Kanada gelten strenge Gesetze gegen Hassreden). Man schreit nicht 'Feuer!' in einem überfüllten Theater“, so wurde der Premierminister zitiert.
Sowohl Kanada als auch Frankreich haben Gesetze, die die Trennung von Kirche und Staat garantieren, aber beide Länder scheinen sich nicht damit abfinden zu können, pluralistische Gesellschaften zu sein.
In Kanada waren die Gesetze gegen Hassreden ein Schritt in diese Richtung. Die Regelungen werden aber zunehmend von Menschen untergraben, die das Verbot rassistischer und diskriminierender Äußerungen als Angriff auf die Redefreiheit anprangern – was sich mit Macrons Begründung für die Verteidigung von Karikaturen deckt, die viele Muslime als anstößig empfinden.
In Québec verfolgt Legault nicht nur die gleiche Linie (er kritisierte jüngst eine Hochschule in Ontario, weil diese einen Professor suspendierte, der ein für Afrokanadier abfälliges Wort benutzt hatte), sondern er erlässt auch Gesetze, die Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit diskriminieren – und das alles im Namen des Säkularismus. Dies alles wirft die Frage auf, wo der Ruf nach einem säkularen Staat aufhört und die Diskriminierung beginnt.
Obwohl Frankreich auf eine lange laizistische Tradition zurückblicken kann, scheint es dem Land noch immer an Sensibilität im Umgang mit Minderheiten zu mangeln, während es gleichzeitig darauf bedacht ist, die Mehrheit der Wähler zu beschwichtigen. Québec, dem eine ähnliche Tradition fehlt, scheint lediglich darauf bedacht zu sein, eine Lebensweise zu konservieren, die jenseits der sentimentalen nationalistischen Vorstellungen einiger weniger Privilegierter nicht mehr existiert.
© Qantara.de 2020
Aus dem Englischen von Peter Lammers