Am falschen Ort geboren

Das neue Buch "Auf der Flucht" von Karim El-Gawhary und Mathilde Schwabeneder erzählt aufrüttelnde und aufwühlende Schicksale von Menschen, die alles verloren haben. Martina Sabra stellt es vor.

Von Martina Sabra

Sie fliehen vor Krieg, Terror und Vergewaltigungen, sie kommen aus Syrien und Eritrea, aus dem Irak und Somalia. Fast jeder von ihnen hat Schreckliches erlebt. Die Medien bezeichnen sie als "Flüchtlingswelle" oder als "Flüchtlingsstrom".

Doch jeder einzelne Flüchtling ist ein Individuum, mit einer besonderen, oft extrem traumatisierenden Geschichte. Niemand hat sich das Flüchtlingsschicksal ausgesucht. Jede und jeder hatte ein Leben vor der Flucht, mit Wünschen, Hoffnungen, Plänen. Solche banalen Tatsachen gehen in der zunehmend aufgeregten Berichterstattung oftmals unter.

Karim El-Gawhary, Fernsehkorrespondent in Kairo und seine in Italien ansässige Kollegin Mathilde Schwabeneder haben nun ein Buch verfasst, das uns alle auffordert, genau hinzuschauen und mehr Mitgefühl und Solidarität mit Flüchtlingen zu üben. Unter dem Titel "Auf der Flucht – Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers" sind insgesamt neun Beiträge der beiden Journalisten zusammengestellt, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln von Flucht und Flüchtlingen erzählen.

Kampf ums nackte Überleben

Viele der Geschichten und Erlebnisse sind so schrecklich, dass es einem beim Lesen die Kehle zuschnürt. Da ist Hosna, eine junge Frau, deren Volk in den sudanesischen Nuba-Bergen mit den Folgen von Kriegsgewalt und Klimawandel kämpft, und die unter unbeschreiblichen Bedingungen ihr Kind zur Welt bringt.

Oder die Syrerin Soha, die es mit ihren vier Töchtern aus der zerstörten syrischen Heimat nach Ägypten schafft – in  der Hoffnung, von dort aus ins rettende Europa zu gelangen. Als sie mit ihren Kindern und 160 anderen syrischen Flüchtlingen von der ägyptischen Mittelmeerküste in See sticht, geht das Boot schon nach wenigen Kilometern unter.

Stundenlang kämpfen die Mutter und die Töchter im Wasser gegen das Ertrinken, doch drei der vier kleinen Mädchen kann die Mutter nicht halten, sie versinken nacheinander in den Fluten. Nur die elfjährige Tochter Sara überlebt und wird schließlich mit der Mutter gerettet.

Flüchtlinge landen mit einem Schlauchboot auf Lesbos; Foto: Reuters/Y. Behrakis
Am falschen Ort geboren: Dass die meisten Menschen in Europa zur Zeit nicht fliehen müssen, sondern in Wohlstand leben, ist nicht ihr persönliches Verdienst, sondern reines Glück – sozusagen die "Gnade des richtigen Geburtsortes", wie Karim El-Gawhary schreibt.

Da ist auch die junge Frau aus dem zerstörten Homs in Syrien, die die sich mit ihren Kindern bereits in Sicherheit wähnt, als das Fluchtauto unter Beschuss gerät. Dem jüngsten Sohn, nicht einmal zwei Jahre alt, zerfetzt ein Querschläger den Schädel. Sein zehnjähriger Bruder sitzt unmittelbar daneben. Seine Verletzungen sind nicht lebensgefährlich, doch er ist seither verstummt.

"Das Buch ist auch eine Therapie"

Solche und andere Geschichten bringen auch erfahrene Journalisten nachts um den Schlaf. "Das Buch ist insofern auch eine Therapie", schreibt Karim El-Gawhary einleitend. "Denn indem man Geschichten weitererzählen kann, verarbeitet man sie auch selbst."

El-Gawhary und Schwabeneder listen die erschütternden Fakten auf: Rund 60 Millionen Menschen befinden sich derzeit weltweit auf der Flucht, mehr als je zuvor. Die weitaus größte Gruppe stammt aus Syrien. Bis 2011 lebten gut 22 Millionen Menschen in dem Land, das als Wiege auch der europäischen Zivilisation gilt.

Heute sind über vier Millionen Syrer im Ausland, weitere 7,5 Millionen Syrer haben innerhalb des Landes ihr Zuhause und ihre Existenz verloren. Über die Hälfte der Bevölkerung, jeder zweite Syrer ist ein Flüchtling, die meisten können nicht zurück, weil es ihre Häuser und ihre Dörfer schlicht nicht mehr gibt. Und nicht nur das: Die Lebenserwartung in Syrien ist binnen vier Jahren dramatisch gesunken, um ganze zwei Jahrzehnte, von 75,9Jahren auf 55,7 Jahre.

"Zwanzig Jahre weniger Leben im Schnitt pro Mensch: Würden Sie mit Ihrer Familie in einem solchen Land bleiben oder würden auch Sie Ihre Koffer packen?", fragt Karim El-Gawhary provokant.

El-Gawhary und Schwabeneder berichten direkt aus Zelten, Auffanglagern, Notunterkünften. Sie schildern detailliert die oftmals unerträglichen, lebensbedrohlichen Zustände. Bedrückend wirkt der fragwürdige Umgang mancher westlicher Medien mit der Situation von Flüchtlingen. Als im Winter 2014 in eingeschneiten Flüchtlingslagern im Libanon syrische Babys erfrieren, weil die dürftigen Zelte nicht zu heizen sind, finden viele Redaktionen das Thema nicht so wichtig und berichten statt dessen über einen Schneesturm in New York.

Zum Flüchtling kann jeder werden

Das Buch macht auch deutlich: Zum Flüchtling kann jeder werden. Es reicht, am falschen Ort geboren und aufgewachsen zu sein. Dass die meisten Menschen in Europa zur Zeit nicht fliehen müssen, sondern in Bequemlichkeit und Wohlstand leben, ist nicht ihr persönliches Verdienst, sondern reines Glück – sozusagen die "Gnade des richtigen Geburtsortes", wie Karim El-Gawhary es ausdrückt.

Neben vielen schlimmen Schicksalen erzählt "Auf der Flucht" auch von Zeichen der Hoffnung und der Fähigkeit von Menschen, pragmatisch Grenzen zu überwinden und mit der neuen Situation zurechtzukommen. In Großraming, einem idyllischen Dorf in Oberösterreich, ist man zunächst entsetzt, als bekannt wird, dass im Ort ein Flüchtlingsheim errichtet werden soll. Viele Menschen protestieren.

Doch Geschäftstüchtigkeit, Pragmatismus und eine Prise Solidarität führen schließlich dazu, dass die Mehrheit ihre Meinung ändert. Der beherzte Bürgermeister und ein christlicher Pfarrer fordern die Bürger auf, die Chance zu nutzen, sich nicht zu verschließen, sondern die Ärmel aufzukrempeln und die Flüchtlinge willkommen zu heißen.

Was anfangs unmöglich erscheint, gelingt. Mehr als 50 Flüchtlinge aus dem Irak, aus Syrien und aus Afghanistan werden in Großraming aufgenommen. Die katholischen Frauen organisieren Spendenaktionen, Rentner geben Kindern Deutschunterricht, die Bürgergesellschaft entwickelt eine ganz neue Dynamik.

Flüchtlinge als Bereicherung

Immer mehr Bürger von Großraming erkennen, dass die Flüchtlinge keine Bedrohung sein müssen, sondern dass sie den Ort und die Gemeinschaft bereichern können. Der Höhepunkt ist eine Messe an Weihnachten, bei der ein muslimischer Syrer der Gemeinde eine Passage aus dem Koran vorliest, in der vom Propheten Jesus die Rede ist. Doch trotz der Annäherung herrscht nicht nur eitel Sonnenschein: Viele Großraminger müssen erkennen, dass der Staat sie mit ihrem Engagement für die Flüchtlinge allein lässt.

Der Kampf mit den Behörden ist langwierig und zäh. Auch auf die schrecklichen Geschichten, die viele Flüchtlinge erzählen, sind die freiwilligen Helfer oft nicht vorbereitet. Dennoch sind die Menschen stolz auf das Erreichte. "Wir haben uns geöffnet. Die Welt ist nach Großraming gekommen", sagt der Bürgermeister.

Auch wenn rechte Parteien versuchen, mit Stimmungsmache gegen Flüchtlinge Wähler zu gewinnen – die Flüchtlingsfrage wird eine der großen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte sein.

Das Buch von El-Gawhary und Schwabeneder kommt zur rechten Zeit, denn es schafft Offenheit und Empathie für Flüchtlinge – die wichtigste Voraussetzung, um die Herausforderung zu bewältigen.

Martina Sabra

© Qantara.de 2015

Karim El-Gawhary & Mathilde Schwabeneder: "Auf der Flucht", Kremayr und Scheriau Verlag, Wien 2015