Falsche Ängste, falsche Hoffnungen

Mit dem Kosovo wurde eine Nation in Europa ausgerufen, die zu rund 90 Prozent aus Muslimen besteht. Der Islam übt jedoch keinen Einfluss auf die Politik aus. Der Balkan- und Kosovo-Experte Konrad Clewing erklärt warum.

Einwohner Pristinas schwenken neue Nationalflagge des Kosovo; Foto: Picture Alliance
"Ja" zum Nationalismus, "Nein" zur Aufwertung des Islams im neuen Staat - Einwohner Pristinas begrüßen die Ausrufung des unabhängigen Kosovos.

​​Mit dem Kosovo, der jüngsten Nation der Staatengemeinschaft, verbinden sich viele Hoffnungen, große Freude und großer Ärger sowie viele Sorgen.

Die Hoffnungen richten sich vor allem darauf, dass nun ein Schlussstrich unter einen lange währenden Territorialkonflikt zwischen der albanischen Mehrheitsbevölkerung und Serbien gezogen wurde – ein Konflikt, der beide Seiten schwer belastet hat.

Die Freude konzentriert sich im Kosovo selbst, wo die Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar von rund 95 Prozent der Bevölkerung bejubelt wurde. Der Ärger hat dagegen sein Zentrum in Serbien, da sich das Land um einen Teil seines Territoriums betrogen sieht.

Die Sorgen richten sich weltweit auf die möglichen Folgen für das Völkerrecht, in dem nun ein Präzedenzfall für das Selbstbestimmungsrecht der Völker zulasten des staatlichen Rechts auf territoriale Unversehrtheit gesetzt worden sein könnte.

Zudem richten sie sich auf die möglichen Folgen für die internationale Diplomatie, auf die vermeintlich zu schwache Lebensfähigkeit des Kosovos, oder auf die Rückwirkungen auf Serbien – und auf einen Kosovo als "muslimischer Staat".

Islamistischer Terror oder demokratisierter Islam?

Hier wachse mitten in Europa ein künftiger Hort des weltweiten Islamismus heran, der als Sprungbrett für islamistischen Terror dienen könne: Derlei hört und liest man nicht allein in Belgrad, sondern auch in Nachbarländern wie Rumänien, beispielsweise aber auch in deutschen Internetforen.

Daneben gibt es auch ganz andere Erwartungen an das "muslimische Kosovo". Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland, erläuterte in einem Artikel, wie das Kosovo zum ersten "echten demokratischen, laizistischen islamischen Land im Sinne westlicher Staaten" werden könnte, zu einem "Vorbild für die gesamte islamische Welt wie auch für die muslimischen Minderheiten in Westeuropa".

Und die US-amerikanische Regierung hegt die Hoffnung, wie schon bei ihrer Unterstützung für die bosnischen Muslime vor über einem Jahrzehnt, die Muslime in aller Welt würden durch das amerikanische Vorgehen im Kosovo darüber belehrt, dass Washington keineswegs anti-muslimisch agiere.

Die muslimische Mehrheit des Kosovos

Sowohl die Sorgen als auch die Hoffnungen hinsichtlich eines Kosovos als "muslimischen Staates", führen in die Irre. Gewiss, die Bevölkerung Kosovos besteht zu über 90 Prozent aus Muslimen oder zumindest Menschen mit muslimischem Hintergrund.

Das Kosovo wird unabhängig: Fatmir Sejdiu und Hashim Thaci; Foto: AP
Die politische Führung in Belgrad wirft Kosovos Ministerpräsident Hashim Thaci und Präsident Fatmir Sejdiu vor, auf serbischem Territorium einen 'falschen Staat' ausgerufen zu haben.

​​Die Albaner Kosovos, ihrerseits etwa neunzig Prozent der Bevölkerung, fallen abgesehen von einer kleinen römisch-katholischen Minderheit fast sämtlich in diese Kategorie.

Und innerhalb der lokalen Minderheiten sind nur die Serben nicht-muslimisch, die kleineren ethnischen Gruppen, wie Türken, Bosniaken sowie andere slawischsprachige Muslime und Roma werden dagegen allesamt traditionell als Anhänger des Islam betrachtet.

Kosovo als nationales, nicht religiöses Projekt

Nur: Das Kosovo als Staat ist – entgegen aller Wunschvorstellungen der dort agierenden internationalen Gemeinschaft – kein primär multi-ethnisches Land, und schon gar nicht ist ein solches neues "Experiment" anders als das albanisch-nationale Projekt zu begreifen.

Dieser Staat wird denn auch schon in Absatz 2 seiner Unabhängigkeitserklärung nicht nur als "demokratisch", sondern auch als "säkular" beschrieben.

Nur scheinbar steht dazu in Widerspruch, dass Ministerpräsident Hashim Thaçi einen Tag vor seiner Fernsehankündigung der Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar zusammen mit Mufti Naim Tërnava zu sehen war.

Denn auf der anderen Seite Thaçis stand auch noch der katholische Bischof der Diözese Kosovo. Das hatte zum einen den Grund, der (serbischen) Gleichsetzung von Albanern und "gefährlichen" Muslimen bildhaft etwas entgegenzuhalten.

Nation über Glauben

Doch grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Muslime im Kosovo in aller Regel als wenig religiös gelten, dass muslimische Glaubensvorschriften von kaum jemandem strikt beachtet werden und dass viele Moscheen leer stehen.

Die gesamte moderne albanische Nationsbildung beruht seit ihren Anfängen in der spät-osmanischen Zeit innerhalb und außerhalb des Staatsgebiets von Albanien ganz wesentlich darauf, dass die Nation höher zu stehen habe als der Glaube.

Eines der Kernfundamente dieser Nationbildung, die in einem gesamtalbanischen Milieu erfolgte, das religiös betrachtet zu etwa 80 Prozent aus Muslimen (Sunniten und Anhänger sufistischer Richtungen) und zu etwa 20 Prozent aus Christen besteht (Orthodoxe im Süden, Katholiken im Norden des albanischen Sprachgebietes) liegt darin, dass es hier keine "muslimische Nation" gibt – neben anderen nichtmuslimische Minderheiten, die bestenfalls toleriert werden.

Insofern sind die Albaner in der Welt der Muslime vielleicht wirklich einen Sonderweg gegangen. Denn wo die Religionszugehörigkeit die nationale Loyalität gefährdete oder zu gefährden schien, wurde und wird ihre Bedeutung von den Verfechtern des nationalen Albanertums wie auch von den albanischen Gesellschaften gezielt in die zweite Reihe gedrängt. Die Albaner sind insofern keine "muslimische" oder wenigstens eine muslimisch dominierte Nation.

Der organisierte albanische Islam

Entsprechend artikulieren sich auch die Vertreter des auf Albanien, Kosovo und Makedonien verteilten albanischen organisierten Islam in Bezug auf den Kosovo national, und nicht religiös.

Bei seinem ersten Besuch im neuen Kosovo, genauer bei der islamischen Gemeinschaft des neuen Nachbarstaats, beglückwünschte der albanische "Reis ul Ulema" von Makedonien, Sulejman Rexhepi, das albanische Volk zur Unabhängigkeit des "neuen albanischen Staates" – als Ausdruck eines "jahrhundertealten Traumes, dessen Erfüllung sich das albanische Volk" verdient habe. Von Islam und Muslimen jedoch keine Spur.

Und an der anhaltenden Dominanz des Nationalismus werden denn auch die weithin erfolglosen Bemühungen arabischer Geldgeber, einen nahöstlich ausgerichteten Islam im Kosovo zu verbreiten, künftig kaum etwas ändern.

Für Europa mag das beruhigend sein. Doch ob die europäische und amerikanische Unterstützung für das Kosovo das Ansehen des Westens bei den Muslimen weltweit merklich steigern kann, bleibt ebenfalls fraglich.

Konrad Clewing

© Qantara.de 2008

Konrad Clewing ist stellvertretender Leiter des Südostinstituts der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Nationalismusforschung, Geschichte der Muslime auf dem Balkan, Geschichte der Habsburgermonarchie und der Kosovokonflikt.

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