Gefangen im Patt
Massaker, Massenvertreibungen, eine sich verschlimmernde humanitäre Krise: Der seit acht Monaten anhaltende bewaffnete Konflikt im Sudan hat sich zu einer umfassenden Katastrophe ausgeweitet. Das Land droht zu einem gescheiterten Staat zu werden oder auseinanderzubrechen.
Am 1. Dezember beendete der UN-Sicherheitsrat zudem die Sondermission zur Unterstützung des Übergangs im Sudan (UNITAMS). Die sudanesische Regierung hatte auf deren Ende gedrängt, weil die Mission "die Erwartungen nicht erfüllt" habe.
Die UNITAMS war 2020 - einige Monate nach dem Sturz des damaligen Diktators Omar al-Bashir - eingerichtet worden, um den Übergang des Sudan zur Demokratie zu unterstützen. Doch dieses Anliegen ist offenbar gescheitert: Der Sudan bewegt sich nicht in Richtung Demokratie, sondern steuert im Gegenteil auf eine Phase noch größerer Unruhe und Gewalt zu.
Die Situation ist "beispiellos"
Die reguläre Armee, SAF, hat etwa 200.000 Mann in ihren Reihen. Kommandiert werden sie von General Abdel Fattah al-Burhan. Die RSF, die unter dem Befehl von Mohammed Hamdan Dagalo alias Hemedti stehen, einem ehemaligen Kommandanten der sudanesischen Armee, haben schätzungsweise 70.000 bis 100.000 Milizen in ihren Reihen. Sie sind wie eine riesige Guerillatruppe aufgebaut.
Die SAF verfügen zwar über eine größere Ausrüstung, die auch Panzer, Hubschrauber und eine Luftwaffe umfasst. Dafür sind sie nicht so kampferprobt wie die RSF.
So stehen sich in Summe zwei Gegner mit vergleichbaren Fähigkeiten gegenüber. Keiner der beiden hat sich gegen den anderen bislang durchsetzen können. Dies habe zu einem "strategischen Patt" geführt, schreibt das Deutsche Institut für Internationale Politik und Sicherheit.
Der Umstand, dass die RSF und die SAF in etwa gleich stark sind, gründet Experten zufolge in den Umständen ihrer jeweiligen Gründung. Die RSF waren im Jahr 2013 von dem damaligen Diktator Al-Baschir ins Leben gerufen worden. Mit Hilfe der neuen paramilitärischen Gruppe wollte er ein Gegengewicht zum Militär schaffen - und auf diese Weise einen möglichen Putsch unterbinden.
Die RSF gingen aus den berüchtigten Dschandschawid-Milizen in Darfur hervor, zu denen sich Kämpfer arabischer Stämme aus diesem Gebiet zusammengetan hatten. Eines der Hauptziele der Dschandschawid war es, die nicht-arabischen Ethnien in Darfur zu bekämpfen.
Der spezielle Hintergrund des Konflikts mache diesen "beispiellos", sagt die Politologin Hager Ali vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg: "Es gibt zwei relativ gleichwertige militärische Organisationen, denen aber eine Plattform für Verhandlungen fehlt." Entsprechend eingeschränkt seien die Möglichkeiten friedensstiftender Maßnahmen, so Ali im Interview mit der Deutschen Welle (DW).
Vom schwelenden Konflikt zu offenen Kämpfen
Nach dem Ende des Baschir-Regimes im Jahr 2019 hatte sich das Militär bereiterklärt, die Macht mit der Zivilbevölkerung bis zu den vereinbarten Wahlen zu teilen. Doch das demokratische Experiment endete 2021, als das sudanesische Militär durch einen Staatsstreich die Kontrolle über das Land übernahm. An dem Putsch waren sowohl die SAF als auch die RSF beteiligt.
Dennoch wurden die Verhandlungen über die Aufteilung der Macht zwischen allen Akteuren, einschließlich der zivilen Parteien, fortgesetzt. Letztlich aber sei es den beiden militärischen Gruppen gelungen, die sudanesische Zivilgesellschaft von der Entscheidungsfindung auszuschließen, so Ali.
Ende 2022 unterzeichneten alle militärischen Akteure sowie 40 zivile Gruppen ein Rahmenabkommen, das den Sudan zu einem demokratischen Übergang führen sollte. Im Rahmen dieses Abkommens sollten sich die RSF in die Reihen der SAF einfügen. Das aber lehnten die RSF ab. Als Hauptgrund des Bruchs gelten die wachsenden politischen Ambitionen von RSF-Chef Hemedti. Im April dieses Jahres dann brachen die Kämpfe zwischen den beiden Fraktionen aus.
Verschleppt und vergewaltigt
Sudanesische Frauen zahlen einen besonders hohen Preis für den nun seit mehr als sechs Wochen dauernden Krieg. Sexuelle Gewalt ist sprunghaft angestiegen und geht von allen Parteien im Krieg aus. Von Karim El-Gawhary
Katastrophale humanitären Lage
Menschenrechtsorganisationen werfen den RSF zahlreiche schwere Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung, Raub und Brandstiftung vor. Überlebende berichten, Männer seien zusammengetrieben und massenweise erschossen oder mit Äxten und Macheten getötet worden.
Wie schon in den Jahren zuvor attackieren die RSF nun auch wieder die nicht-arabischen Ethnien in Darfur. Zentrales Ziel sind die Angehörigen der Masalit. Bereits Anfang 2023 hatten die RSF hunderttausende Angehörige der Ethnie aus ihrem Gebiet vertrieben.
Im November wurden bei Kämpfen zwischen 800 und 2000 Menschen, hauptsächlich Zivilisten, getötet. Weitere 8000 Menschen wurden vertrieben, viele von ihnen flohen in den benachbarten Tschad, wo bereits etwa eine halbe Million Sudanesen leben, die bei früheren Kämpfen vertrieben worden waren.
"Dies ist die größte Vertreibungskrise auf dem [afrikanischen] Kontinent, wenn nicht sogar weltweit", sagte Will Carter, beim Norwegischen Flüchtlingsrat für den Sudan zuständig, vergangene Woche auf einer Online-Konferenz des Zentrums für internationale und strategische Studien in Washington.
Die Situation sei düster, so Carter. Man müsse davon ausgehen, dass sich die Lage im kommenden Jahr noch verschlimmere. "Die Hungersnöte sind nicht überwunden. Furchtbare Gräueltaten werden begangen." Der Kollaps des Staates lasse befürchten, dass auch das Gesundheits- und das Bildungssystem zusammenbrächen. Auch könnten die Banken absehbar womöglich keine grundlegenden Dienste mehr leisten. "Die Zahl der Opfer ist gewaltig, die Mittel sind knapp, und die operativen Kapazitäten der Hilfsorganisationen sind gering", so Carter.
Seit den jüngsten Zusammenstößen hat sich die ohnehin kritische humanitäre Lage im Sudan zusätzlich verschlechtert. Waren nach Angaben von Hilfsorganisationen bislang rund 15,8 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, rechnet man nun mit beinahe 25 Millionen.
Die humanitären Auswirkungen gäben größten Anlass zur Sorge, sagt Malte Lierl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA, der DW. "Diese werden ein Land wie den Tschad überfordern und die gesamte Region in Mitleidenschaft ziehen."
Wie geht es weiter?
Nach Einschätzung einiger Expertinnen und Experten könnten die Kämpfe zu einer Spaltung des Sudan führen. Andere wiederum schätzen, die Kämpfe könnten ein Patt ergeben und zu einer ähnlichen Lage wie im benachbarten Libyen führen. Libyen teilt sich in zwei Landesteile, die jeweils von rivalisierenden Gruppen kontrolliert werden.
Derzeit wollten weder die RSF noch die SAF Zugeständnisse zur Beendigung der aktuellen Kämpfe machen, sagt die Politologin Ali. Das verheiße nichts Gutes für ein neues Friedensabkommen. Entscheidend werde am Ende sein, welche der beiden Gruppen die Bevölkerung mobilisieren könne.
In diesem Punkt seien die beiden Seiten nicht gleich stark, so Ali. Zwar liege der größere Teil der Regierungsstrukturen in der wichtigen Hafenstadt Port Sudan im Machtbereich der SAF. Doch maßgeblich sei auch, wer den Zugang zu den wichtigsten Ressourcen des Sudan habe. In dieser Hinsicht lägen derzeit die RSF vorne.
Niemand aber wisse wirklich, was in den kommenden Wochen und Monaten passieren werde, so Ali. Eine Rückkehr zu einem Friedensabkommen auf Basis einer Machtteilung scheine derzeit unwahrscheinlich. Denn sowohl die RSF als auch die SAF wären gezwungen, zu viele Zugeständnisse zu machen und Macht und Reichtum zu verlieren. "Im Grunde haben sich beide Seiten miteinander verschworen, um auf Kosten der Gesellschaft Macht und Ressourcen unter sich aufzuteilen", sagte Ali.
Cathrin Schaer
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp
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