Gemeinsamkeiten entdecken, Spaltungen überwinden
Lanah Haddad kommt aus dem Reden nicht mehr heraus. Die Menschen im Ala Center im nordirakischen Erbil drängen sich um sie, der Strom reißt kaum ab. Auf Kurdisch, Arabisch, Englisch und Deutsch erklärt die Archäologin und Künstlerin das von ihr erdachte Brettspiel "The Assyrian Empire", in dem die Spieler als assyrische Könige Assurbanipal oder Sanherib um Macht und Einfluss kämpfen.
Die Assyrer bestimmten bis etwa zum 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Geschicke der Region. Das fruchtbare Mesopotamien – das Zweistromland von Euphrat und Tigris – war zur damaligen Zeit den Europäern weit voraus, das assyrische Reich gilt in seiner Blüte als eine Hochkultur des Alten Orients.
In Deutschland würde ein Historien-Brettspiel wohl auf weniger Interesse stoßen. Im Irak dagegen könnte der Zeitpunkt nicht besser sein: Immer mehr Menschen im Land besinnen sich auf ihre gemeinsame Geschichte. "Das Spiel soll eine Brücke zu ihrem gemeinsamen Erbe sein", sagt Lanah Haddad.
Gemeinsamkeiten entdecken, Spaltungen überwinden: Das ist auch eine der Losungen der Proteste in Bagdad und vielen weiteren Städten des Zentral- und Südirak. Den Demonstrierenden geht es um ein Ende von Korruption, Gewalt und religiösen Spaltungen, sie fordern Arbeitsplätze, Perspektiven, verlässlich Strom und sauberes Wasser.
Wie zwei Welten
Erbil und Bagdad trennen 60 Flugminuten, aber an diesem Samstag Ende November mag es sich anfühlen wie zwei Welten. In Bagdad gehen Hunderttausende auf die Straßen, Erbil wirkt ruhig und fast etwas langweilig. Aber nur auf den ersten Blick. Im Ala Center, einem verwinkelten Kulturzentrum mit Garten und Café, das der Jugendorganisation der Demokratischen Partei Kurdistans gehört, zeigen gut 20 Künstlerinnen und Künstler aus allen Teilen des Landes ihre Werke.
Es gibt Filme, Comics, Musik und Theater, und wer sich einen ganzen Tag lang die Werke ansieht, mit den Künstlerinnen und Künstlern spricht und sich unter das Publikum mischt, erhält einen intensiven Einblick in die lebhafte Kulturszene des Irak. Alle diese Projekte hat das Goethe-Institut mit seinem Programm "Spotlight Iraq" gefördert.
Althergebrachte Traditionen überwinden
Die 22-jährige Sarah al-Zubaidi zum Beispiel will die Liebe zum Theater in ihrer Heimatstadt Kerbela fördern. Die Stadt ist zwar religiös-historisch wegen der Schlacht von Kerbela im Jahr 680 von großer Bedeutung – ein modernes, kulturell bereicherndes Leben zu führen, sei vor allem für Frauen aber schwierig, sagt al-Zubaidi. "Mein Theaterprojekt soll auch zeigen, dass wir manche dieser althergebrachten Traditionen aufbrechen müssen. Im Moment erlauben die gesellschaftlichen Einschränkungen den Frauen weder ihre Ziele zu verfolgen, noch sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen."
Für Huda al-Kadhimi war gerade das der Ansporn, wieder in ihr Heimatland zurückzukehren. Sie ist in Amman aufgewachsen, weil ihrer Familie die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten zu groß geworden waren.
Al-Qaida hatte ab 2006 mit gezielten Terrorattacken diese Spannungen geschürt. "Viele haben mich gefragt, warum ich zurückgegangen bin – hier sei doch einfach alles riesiger Mist. Aber auch wenn ein Leben als Flüchtling in Europa einfacher gewesen wäre: Der Irak ist voller inspirierender Geschichten, die ich abbilden will." Heute arbeitet sie als Filmemacherin, ihr aktuelles Projekt zeichnet die Fluchtgeschichte dreier arabischer Frauen nach.
Für die nur als Anschubfinanzierung gedachten Stipendien des Goethe-Instituts hatten sich 88 Projekte beworben, sagt Thomas Koessler, Leiter des Goethe-Büros im Irak mit Sitz in Erbil. Am Ende wurden 24 ausgewählt. "Die Funds sind nicht groß, wir hatten insgesamt 80.000 Euro Fördermittel. Es ging uns eher darum, Impulse zu setzen, zu sagen: Hier kannst du kurzfristig und unbürokratisch etwas machen."
Fortlaufende Projektförderung "Spotlight Iraq"
Auch noch im kommenden Jahr soll Spotlight Irak Projekte fördern, aber das Goethe-Institut sieht seine Aufgabe zunehmend darin, die irakischen Partner dazu zu bewegen, selbst spannende Ideen zu unterstützen. "Es ist nicht so, dass es im Irak generell und überhaupt kein Geld gebe. Es gibt Geld, auch das irakische Kulturministerium hat Geld." Das Problem: Die Vergabeprozesse für finanzielle Unterstützung seien sehr undurchsichtig.
Geld versickert, das ist im theoretisch reichen Irak ein Alltagsphänomen. Korruption, religiös geschürte Spaltungen, Arbeits- und Perspektivlosigkeit: Die Probleme im Irak sind seit Langem die gleichen. Die Künstlerinnen und Künstler hier im Ala Center verarbeiten sie entweder in ihren Werken oder sind gleich selbst davon getroffen: Viele haben Abschlüsse von irakischen Universitäten oder studieren noch – von einer lukrativen Anstellung können sie aber nur träumen.
Der Geist des Tahrir-Platzes
Die Themen der Revolutionäre in der Hauptstadt und anderen irakischen Städten stehen im Raum, begleiten jedes Gespräch. Eigentlich sollte die Veranstaltung in Bagdad stattfinden, aber wegen der unklaren Sicherheitslage entschied sich das Goethe-Institut kurzfristig für Erbil.
Der Filmemacher Yasir Kareem bedauert das zwar, sagt aber auch: "Das ist eben einer dieser vielen Widersprüche in uns und in unserem Land." In einer kurzen, flammenden Rede beschwört er den Geist des Tahrir-Platzes: "Für mich haben wir schon gewonnen. Auf dem Tahrir-Platz sehe ich einen Irak, wie ich ihn mir wünsche, endlich ein Heimatland für uns alle."
Das findet auch Huda al-Kadhimi: "Auf dem Tahrir sind alle vereint, hier haben wir endlich die Spaltungen in Sunna und Schia oder zwischen Norden und Süden überwunden."
Der Rücktritt des Premierministers Adil Abd al-Mahdi sei ein erster Schritt, sagt Hussein Muttar, ein 21-jähriger Student. Aber: Weitere müssten folgen, wegen des Massakers in Nassriyah, wegen der gezielten Kopfschüsse mit Tränengasgranaten, wegen der brutalen Gewalt iranisch unterstützter Gruppen seit Tag eins der Revolution.
"Die Leute werden nicht nach Hause gehen, wir werden nicht weglaufen. Auch im Irak gilt das Gesetz, wir sind nicht in einem Dschungel, wir leben nicht mehr in einer Diktatur, und Saddam Hussein ist nicht mehr unter uns. Wir werden unsere Rechte nicht einfach aufgeben."
Christopher Resch
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