Wider die Kulturalisierung des Kopftuch-Diskurses!
Appelle - politische oder sozial-gesellschaftskritische - können zur Klärung und zu einer umfassenden Diskussion beitragen. Sie können aber auch das Gegenteil bewirken.
Dies gilt vor allem für Sachverhalte, in denen Emotionen angesprochen werden, und ebenso für die Sorgfaltspflicht von Politikern, die eine besondere Verantwortung in Religions- und Migrationsfragen haben.
In der Diskussion um das Kopftuch wiegt die Gefahr der Polarisierung doppelt. Zu leicht wird die Grenze zwischen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24.09.2003, d.h. der Frage, ob eine Lehrerin an einer öffentlichen Schule ein Kopftuch tragen darf, und den "Angsthinweisen", bald könnte ein Verbot auch andere Musliminnen treffen, überschritten.
Häufig wird Kritikern des Kopftuchs bei Lehrerinnen unterstellt, sie wollten statt religiöser Vielfalt "Zwangsemanzipation" durchsetzen und gleichzeitig verhindern, dass muslimische Frauen "einen selbstbewussten, frei gewählten Lebensentwurf verfolgen" können.
Die Argumentation gipfelt häufig im Vorwurf, es gehe eigentlich um eine Diskriminierung der Muslime an sich, um verdeckten Antiislamismus. Vertreter einiger konservativ-islamischer Verbände gehen gar so weit, Parallelen zum Antisemitismus oder zur Judenverfolgung im Dritten Reich zu ziehen.
Zusammenführen statt spalten!
Dabei ist das Ziel ein ganz anderes: Zusammenführen statt spalten, und zwar zusammenführen in der gesamten Gesellschaft. Die Anerkennung des Anderen, d.h. sorgsame Meinungsfindung, Werbung für unsere grundgesetzlich verankerten Rechte und Pflichten sowie eigenverantwortliche Lebensweisen aller Bürgerinnen und Bürger.
Dieses Ziel bedeutet eben nicht die Diskriminierung einer Religion, sondern gerade die gleichberechtigte Anerkennung des Islam als eine der auch in Deutschland bedeutenden Weltreligionen.
Diese gleichberechtigte Anerkennung bedeutet aber eine Gleichbehandlung der Religionen in Bezug auf die Akzeptanz und die Mitwirkung an den im Grundgesetz festgeschriebenen Grundsätzen und Zielen unserer Gesellschaft.
Ansprüche und Wünsche einzelner Gruppen sind legitim. Sie sind aber dort zu hinterfragen, wo sie medienwirksam als Fragen gegen oder für sie "in die Mitte der Gesellschaft" platziert werden.
Unverarbeitete Konflikte
Das nach einem langjährigen Rechtsstreit zwischen der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin und dem Land Baden Württemberg ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot des Kopftuchs in der Schule legt den Finger in eine gesellschaftliche Wunde:
Es geht nicht nur um ein Kopftuch. Hier wird der unverarbeitete Konflikt unseres Landes offen gelegt, das sich mit wachsendem religiösem und kulturellem Pluralismus konfrontiert sieht.
Diesen Konflikt haben wir bisher nur teilweise aufgegriffen – je nach zwingender Aktualität. Dazu gehören auch die kontroversen Entscheidungen darüber, was Macht- und was Religionsfragen sind und wie viel Religion ein säkularer Staat verträgt.
Religiöser Klärungsbedarf
Das Tragen des Kopftuchs ist auch nach Meinung vieler Islamgelehrter kein obligatorischer Bestandteil der Religionsausübung von Musliminnen. Trotzdem tragen viele Frauen das Kopftuch. Wenn es freiwillig - aus kulturellen oder persönlich-religiösen Motiven - geschieht, ist es auch durchaus legitim.
Es ist dann ein Problem, wenn es aus patriarchalischen Traditionen und unter dem Verweis auf einseitige Koran- und Hadith-Interpretationen aufgezwungen wird.
Die religiöse Pflicht zum Kopftuch, die von organisierten Protagonisten propagiert wird, demonstriert eine Zugehörigkeit zu einer religiös-politischen Weltanschauung, die sich von der Konsensgesellschaft abgrenzen möchte.
Ursprung des Kopftuchs nicht religiös
Muslimische Frauen haben - wie alle Frauen in allen Gesellschaften - im Laufe der Jahrhunderte ihre Köpfe mit einer Vielzahl von Trachten bedeckt. Diese trugen unter anderem Namen wie Lachak, Chador, Rusari, Rubandeh, Chaqchur, Maqne'a und Picheh.
Sie hatten allesamt stammesgesellschaftliche, ethnische oder anderweitig folkloristische Ursprünge, nie aber religiöse.
Es ist eine Tatsache, dass die Politisierung des Kopftuchdiskurses die Geschlechtertrennung begünstigt. Der islamische "Hijab" symbolisiert soviel vom Islam, wie Maos Uniform von der chinesischen Zivilisation.
Amir Taheri, Chefredakteur der iranischen Tageszeitung "Kayhan" in den 70er Jahren, bringt das Problem der Debatte auf den Punkt:
"Wenn sich in Deutschland die politische Öffentlichkeit eine Meinung in Bekleidungsfragen bildet, stehen nach wie vor kulturalistische Interpretationen im Vordergrund. Die Konstruktion autochthoner Kulturen ist nicht nur eine historisch fragwürdige Exotisierung. Sie ist zudem ein Akt der Ausübung repressiver Normalität. Die aktuelle Kopftuchdebatte wird durch die Brille des deutschen Kulturalismus als theologische Frage einer seit Karl May romantisierten Religion wahrgenommen. Der Blick auf die Geschlechter normierende Wirkung dieser Uniformierung ist bedenklich unterrepräsentiert."
Von außen jedenfalls betrachtet und – viel wichtiger noch – von einer großen Zahl der Musliminnen wird es als Symbol für die Unterdrückung der Frau in einer spezifischen Auslegungsart des Islam wahrgenommen. Ebenso steht es für die Reduzierung der Frau auf ihre Sexualität.
Abwägen der Grundrechte notwendig
Zudem muss daran erinnert werden, dass das Tragen des Kopftuches in der Öffentlichkeit durch Art. 4 GG (Religionsfreiheit) garantiert ist. Dies will niemand im Privaten und in der Öffentlichkeit in Frage stellen.
Allerdings findet die Religionsfreiheit ihre Grenze da, wo die Grundrechte Dritter (etwa in der öffentlichen Schule die der Schüler und Eltern), Güter von Verfassungsrang sowie der neutrale Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates berührt sind.
Das religiös motivierte Tragen eines Kopftuchs durch eine Lehrerin im Unterricht berührt unterschiedliche Diskussionsebenen: die politische, religiöse und juristische.
Die Diskussion hierüber ist auch von Ängsten und Vorurteilen bestimmt. Die Frage ist, ob der Staat, als Dienstherr einer öffentlichen Grund- oder Hauptschule, eine Lehrerin verpflichten kann, in Schule und Unterricht auf Erkennungszeichen ihrer Religionszugehörigkeit zu verzichten.
Der weltanschaulich neutrale, aber Wert gebundene Staat ist zur Verteidigung und Förderung von Menschen- und Bürgerrechten verpflichtet. Dazu gehört die Religionsfreiheit ebenso wie das Verbot einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Hier sind - im Sinne des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechts-Charta - Interessen abzuwägen.
Der Fall Ludin
Im aktuellen Fall betrachtet eine Muslimin das Kopftuch als eine religiöse Pflicht. Sie will als Lehrerin das Kopftuch in der Schule tragen und beruft sich auf die Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG).
Sie erhebt den Anspruch, dass ihre individuelle (positive) Religionsfreiheit gegenüber dem Grundrecht von Schülern und Eltern auf (negative) Religionsfreiheit, dem elterlichen Erziehungsrecht sowie dem Verfassungsgebot der staatlichen Neutralität als vorrangig anerkannt wird. Genau hier kommt die Pflicht des Staates zur „Abwägung“ zum Tragen.
Die Vorbildfunktion für Schülerinnen sollte ebenfalls berücksichtigt werden. Das Tragen des Kopftuches kann, selbst wenn es nur als Ausdruck individueller religiöser Überzeugung ausgelegt wird, in seiner Wirkung die negative Religionsfreiheit von Eltern und Schülern beeinträchtigen, indem es sehr spezifische Vorstellungen und Bilder vom Islam hervorruft.
Der Staat muss jedoch weltanschaulich neutral sein. Religiöse Symbole in Schule und Behörden beeinträchtigen die negative Religionsfreiheit von Schülern und Eltern. Und die Eignung einer Amtsträgerin ist dann in Frage zu stellen, wenn sie die gebotene Neutralität verweigert.
Der Vorwurf des Berufsverbotes ist daher so falsch wie ungerecht. Keine Muslimin wird daran gehindert, einen Beruf auszuüben, wenn sie die Grundregeln des Dienstverhältnisses einzuhalten bereit ist.
Hegemonialstrategie islamistischer Verbände
Das Problem ist die Politik derjenigen islamischen Verbände, die über einen Rechtsstreit den Staat zwingen wollen, ihr Verständnis von religiös-kultureller Differenz zu übernehmen und anderen Grundrechten nachzuordnen.
Es wäre in höchstem Maße gefährlich, eine solche Hegemonialstrategie islamistischer Verbände im Namen der Toleranz staatlich zu befördern.
Denn gerade dann, wenn man zulässt, dass die kleinen, lautstarken und islamistischen Verbände als "der Islam" in Deutschland wahrgenommen und öffentlich anerkannt werden, schafft man ein Klima der Ablehnung und Ausgrenzung von Muslimen.
Dies wäre eine Entwicklung, die unsere Gesellschaft nicht einschlagen kann, da sie nur den islamistischen Verbänden bei ihrem Bestreben helfen würde, sich als Vertreter einer "ausgegrenzten kulturellen Minderheit" unverzichtbar zu machen.
In diesem Zusammenhang müssen auch die Gesetzesentwürfe einiger CDU-regierter Bundesländer kritisiert werden. Sie verbieten das Kopftuch der Lehrerin und bejahen gleichzeitig christlich-religiöse Symbole ausdrücklich aus historisch-kulturellen Gründen.
Solch ausdrückliche Differenzierung steht in eklatantem Widerspruch zur grundgesetzlich verbrieften und im Urteil des Bundesverfassungsgerichts eindeutig geforderten Gleichbehandlung der Religionen. Sie spalten daher nicht nur unnötig unsere Gesellschaft, sondern würden auch einer erneuten verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhalten.
Somit hätten die klagenden islamistischen Verbände genau den juristischen und gesellschaftlichen Triumph erhalten, den sich Demokraten nicht wünschen können.
Intergration ernst nehmen
Wer hingegen wirklich Emanzipation im Sinne der Aufklärung und des Humanismus will, der schaut kritisch auf einen Kopftuchdiskurs, bei dem es nicht um die einzelne muslimische Frau geht, sondern um die religiös-kulturelle Deutungsmacht innerhalb des Islam.
Er setzt sich auch dafür ein, dass im Konflikt mit besonderen "kulturellen Identitäten" die universalen Menschen- und Bürgerrechte Vorrang haben.
Wer wirkliche Integration der Muslime in Deutschland will, erreicht dies nicht durch eine Integrationspolitik der Anbiederung an kulturalistisch–religiöse Interessenverbände.
Hier ist eine Integrationspolitik vonnöten, die die gleichberechtigte Teilhabe aller an unserer durch die Werte des Grundgesetzes und der Menschenrechte geprägten Gesellschaft anstrebt. Genau dies sollte auch durch Lehrerinnen und Lehrer vermittelt werden.
Wer Integration ernst nimmt, nimmt vor allem auch die Meinung der muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande auf. Wie eine Vielzahl von ihnen – insbesondere den betroffenen Frauen - denkt, hat ein offener Brief türkischstämmiger Musliminnen an Marie Luise Beck formuliert:
"Wer würde sich innerhalb der muslimischen Bevölkerung durch die Untersagung des Kopftuchs in den Schulen ausgegrenzt fühlen? Alle, für die die Religion eine private Angelegenheit ist, und alle, die gegenüber religiösen Vorschriften indifferent sind, kennen und akzeptieren problemlos das Verfassungsprinzip von der Neutralität der Schule. Nur diejenigen, die unter dem Einfluss der Islamisten stehen und für die das Kopftuchtragen nicht nur im Privatleben, sondern auch im öffentlichen Dienst als unverzichtbar gilt, würden dieses Verbot als Ausgrenzung verstehen."
Lale Akgün
© Qantara.de 2004
Die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Lale Akgün ist heute Kölner Bundestagsabgeordnete der SPD. Darüber hinaus leitet sie seit Februar 1997 das dem nordrhein-westfälischen Sozialministerium unterstellte Landeszentrum für Zuwanderung (LzZ).