Ein dritter muslimischer Weg?
Der Plan von Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP ist aufgegangen: Sie sind wieder alleine an der Macht. Dabei zeigten - mit einer einzigen Ausnahme - alle Wahlumfragen Gegenteiliges. Es wurde erwartet, dass die AKP eine Koalitionsregierung eingehen muss. Doch es kam anders und die ganze Welt fragt sich nun, ob Recep Tayyip Erdoğan die türkische Volksseele besser kennt als die besten Marktforschungsunternehmen des Landes.
Manche behaupten, die AKP habe das Wahlvolk von ihren Zielen überzeugt. Die Bevölkerung sei zu der Auffassung gelangt, dass eine Koalitionsregierung das Land womöglich destabilisieren werde. Andere wiederum werfen der AKP Wahlbetrug vor oder behaupten, Erdoğan habe mit einer aggressiven Wahlkampf-Kampagne eine Stimmung der Angst erzeugt, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Genau diesen Umstand kritisieren beispielsweise die OSZE und die Parlamentarische Versammlung des Europarats. Doch Angst allein erklärt wohl nicht das taktische Vorgehen Erdoğans und seiner AKP.
Einige Politiker der AKP erinnerten daran, dass die schrecklichen Anschläge von Ankara nicht stattgefunden hätten, wenn die Mehrheit bereits im Juni die AKP gewählt hätte. Mit anderen Worten: Damit sollte deutlich werden, dass der Alptraum für das Wahlvolk wohl weitergehen werde, falls es erneut eine falsche Wahl treffen sollte. Derlei Deutungen sind keinesfalls neu. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass der politische Diskurs der AKP-Regierung im Wahlkampf im engen Kontext globaler politischer Trends steht.
Die neue Politik "der Eindämmung der Demokratien"
Die alten Demokratien Europas und Nordamerikas verlieren auf internationaler Ebene stetig an Macht. In China, Russland und auf der arabischen Halbinsel gelingt es offensichtlich, Wohlstand zu erreichen, ohne dabei demokratische Strukturen zu schaffen. Christopher Walker von der amerikanischen Stiftung "National Endowment for Democracy" spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer neuen Politik "der Eindämmung der Demokratien". Die wichtigsten Protagonisten dieser "Anti-Demokratie-Front" sind Russland (im weltweiten Demokratieindex mit 3,39 Punkten auf Platz 132 von 167), China (Platz 144 mit 3 Punkten), Saudi-Arabien (Platz 161 mit 1,82 Punkten) und Ägypten (Platz 138 mit 3,61 Punkten).
Aber auch in europäischen Staaten feiern reaktionäre, rechtskonservative und populistische Kräfte ihre Wiederauferstehung. Die Anhänger der rechten Parteien in Österreich, Frankreich sowie in Deutschland rufen in Zeiten großer sozialer Unsicherheit und Konflikte wieder nach einem "starken Mann". In arabisch-muslimischen Staaten nehmen hingegen Rechtsstaatlichkeit und Individualrechte zu, wie jüngst auch die Untersuchungen von Volker Perthes, Direktor der "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP), belegen.
Begrenzte Freiheiten: das Beispiel Saudi-Arabien
Saudi-Arabien beispielsweise war bisher ein lupenreiner Allokations- und Rentierstaat – anstatt seine Bürger zu besteuern und ihnen politische Rechte einzuräumen, bezuschusst er sie, um das Volk zu disziplinieren. Heute stärken jedoch marktwirtschaftliche Reformen die bereits existente Mittelschicht im Land.
Die Saudis haben "von oben herab" im sehr geringen Maße Bürgerrechte, Transparenz, Meinungsfreiheit und Eigentumsrechte sowie begrenzte Informations- und Kommunikationsfreiheiten etabliert. Dies signalisiert zwar nicht eine Anlehnung an demokratische Standards wie in liberalen, westlichen Staaten, wohl aber eine stärkere Institutionalisierung und Partizipation der Bürger. Despotie und Individualrechte sind daher offensichtlich kein Widerspruch.
Daneben hat in der weniger wohlhabenderen muslimischen Welt eine Revolution "von unten" begonnen. Im Dezember 2010 begann der Arabische Frühling in Tunesien, einem der repressivsten arabischen Staaten, der bald wie ein Flächenbrand über Nordafrika und den Nahen Osten hinwegfegte.
Es ist nicht zu erwarten, dass die arabisch-muslimischen Länder eine ähnlich rasche Transformation erfahren werden wie die Staaten Mittel- und Osteuropas. Denn es gibt deutliche Unterschiede. Die islamische Welt weist oft nur eine kleine Mittelschicht in ihren Ländern auf und ist in vielen Fällen von extremen Einkommens- und Vermögensunterschieden geprägt. Weil ihre Bevölkerungen sehr jung sind und rasch wachsen, stehen die Regierungen vor besonders großen Herausforderungen, was Bildung und die Schaffung von Arbeitsplätzen angeht.
Im Spannungsfeld zwischen Demokratie und Autokratie
Global betrachtet, sind die jüngsten Entwicklungen in der Türkei also keineswegs ein Einzelfall. Auch sie bewegt sich - wie der Nahe Osten, einige europäische Staaten und zahlreiche Länder in Nordafrika - im Spannungsfeld zwischen Demokratie und Autokratie.
1992 prophezeite der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das "Ende der Geschichte" nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Damit meinte er, dass im Kampf der politischen Ideologien der Kapitalismus bzw. die liberale Demokratie alternativlos geworden sei, nachdem der Kommunismus und die für ihn typischen Parteiendiktaturen gescheitert seien. Scheinbar blicken wir aber nun - fast 20 Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs - auf das Aufkommen eines neuen Wettbewerbs politischer und gesellschaftlicher Systeme: Demokratie vs. Despotie.
Allerdings zeichnet sich vor dem Hintergrund der Umbrüche in der arabischen Welt und der von oben verordneten, begrenzten Reformen in einigen Ländern der Region noch ein dritter, muslimischer Weg ab, der zwischen Demokratie und Autokratie verläuft: ein autoritäres Staatsmodell, in dem Rechtsstaatlichkeit und Individualrechte einen größeren Stellenwert einnehmen. Doch den Beweis für ein solches Modell wird die Regierung in Ankara für die Türkei wohl noch erbringen müssen.
Zurzeit nämlich zeigt sie, dass sie einen anderen Weg bestreiten möchte. Einen Tag nach der Wahl wurden wieder Dutzende Journalisten eingesperrt. Gleichzeitig wurde anderen regierungskritischen Zeitungen gedroht, enteignet zu werden. Damit jedoch ist keinesfalls der dritte, muslimische Weg gemeint.
Patrizia Trolese und Kamuran Sezer
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