Aufstand der Worte

Welchen subversiven Beitrag hat Literatur im Vorfeld der Aufstände in der arabischen Welt geleistet? Und sollen Prosa, Lyrik und andere literarische Genres sich ganz der "Revolution" verschreiben oder eher eine kritische Distanz wahren? Antworten von Stephan Milich

Von Stephan Milich

"Um ein großer Dichter zu werden – einerlei in welchem arabischen Land – muss man wahrhaftig sein; um wahrhaftig zu sein, muss man frei sein; und um frei zu sein, muss man lebendig sein; doch um lebendig zu sein, muss man schweigen!"

In diesem Teufelskreis, den der syrische Dichter, Dramaturg und Radiojournalist Muhammad al-Maghut (1934-2006) im Jahr 1984 so treffend in Worte fasste, waren in den letzten fünf Jahrzehnten zahlreiche arabische Literaten und Künstler gefangen.

Mit Einschüchterungsmaßnahmen, Inhaftierung und anderen Methoden politischer Repression wurden Kulturschaffende unter Druck gesetzt und mundtot gemacht, wenn sie kritische Meinungen gegenüber der offiziellen Politik äußerten.

In anderen Fällen wurden sie von staatlicher Seite vereinnahmt, wenn ihre materielle Situation als Intellektuelle ihnen keine andere Wahl zu lassen schien. So war es für Diktatoren wie Saddam Hussein, Muammar al-Gaddafi oder Hosni Mubarak ein Leichtes, Dichter zu finden, die das traditionsreiche Herrscherlob ("madih") sangen.

Neue Form politischer Unfreiheit

Nach der Zeit der europäischen Kolonialherrschaft, die die Länder der Region mit konfliktreichen Grenzziehungen und den Auswirkungen einer fatalen Identitätspolitik zurückließ, hatte der Aufbruch in die Unabhängigkeit in der Mitte des 20. Jahrhunderts lediglich in eine neue Form politischer Unfreiheit durch Diktaturen geführt.

Plakat mit Hosni Mubarak Gamal Mubarak Ali Abdullah Saleh Gadaffi und Baschar al-Assad am Galgen; Foto: AP
Abrechnung mit den Diktatoren der postkolonialen Ära: "Das Gefühl, erneut oder noch immer unterdrückt zu werden und unfrei zu sein, war bei den über lange Jahre angestauten Gefühlen der Frustration, Aussichtlosigkeit und Wut entscheidend."

​​Diese einheimischen despotischen Regime wurden sowohl von Intellektuellen als auch von den unterschiedlichsten Teilen der Bevölkerung in den letzten Jahren zunehmend als 'Selbstkolonisierung' empfunden – ähnlich wie dies in manchen afrikanischen Ländern der Fall ist.

Das Gefühl, erneut oder noch immer unterdrückt zu werden und unfrei zu sein – nur eben nicht durch westliche Einmischung und Intervention, sondern von den Herrschenden aus dem eigenen Land – war bei den über lange Jahre angestauten Gefühlen der Frustration, Aussichtlosigkeit und Wut entscheidend.

Das Heimatland, arabisch "Al-Watan", hatten sich der Präsident und seine Klientel zu Eigen gemacht. Und so geht es bei den arabischen Aufständen 2011 im Wesentlichen darum, sich erneut mit der Heimat identifizieren zu können und das Recht, die eigene Gesellschaft mitzugestalten, einzufordern.

Das desillusionierte Lebensgefühl, das Vorbedingung der Revolution war, wurde über Jahrzehnte hinweg mit unterschiedlichen Zwischentönen von den zahlreichen, teils im Exil lebenden arabischen Prosaautoren und Dichtern in mächtige Worte und Geschichten gekleidet, die wiederum auf das Selbstbild arabischer Gesellschaften zurückwirkten.

Der vielleicht einflussreichste Dichter in dieser Hinsicht ist der Iraker Muzaffar al-Nawwab (geb. 1934), der mit seinem beißenden Sarkasmus sowohl in irakischer Umgangssprache als auch in Hocharabisch verfasst keine arabische Regierung verschonte. Nach 40 Jahren Exil ist er dieses Jahr in seine Heimat zurückgekehrt.

Zwischen Pessimismus und Verweigerung

Eigentlich hatte man sich in den letzten Jahren schon von der Idee eines möglichen Wandels hin zum Besseren verabschiedet. Das Bild der "toten Hoffnung" kursierte im literarischen und literaturkritischen Diskurs.

Abd al-Rahman Munif ; Foto: Verlag Diederichs
Scharfe Kritik an saudischem Ölreichtum und wahhabitischer 'Kulturpolitik' auf die Entwicklung der Region: der arabische Schriftsteller Munif, der vor allem mit seinem fünfbändigen Romanwerk "Mudun al-milh" (Salzstädte) bekannt wurde.

​​Manche Künstler konnten die immer wieder neu erlebten Enttäuschungen über die anscheinende Stagnation in ihren Heimaten nicht mehr abschütteln und verfielen in einen dauerhaften Pessimismus, der sie jedoch nicht davon abhielt, weiterhin die diktatorischen Umstände anzuprangern. So gesehen haben die Literaten die Revolution zwar nicht unbedingt initiiert, diese aber auf künstlerische Weise vorbereit und vorweggenommen.

Ein Schriftsteller wie Abd al-Rahman Munif (1933-2004), der in seinen Romanen und Essays nicht nur die verheerenden Auswirkungen von saudischem Ölreichtum und wahhabitischer 'Kulturpolitik' auf die Entwicklung der Region kritisierte, sondern auch unermüdlich die despotischen Strukturen angeblich sozialistischer und nationalistischer Regierungen anprangerte, beeinflusste das öffentliche Bewusstsein nachhaltig.

Als der Prosaautor Sonallah Ibrahim (geb. 1937) im Jahr 2003 den ägyptischen Staatspreis ablehnte, stellte er eindrucksvoll zur Schau, wie man sich dem Versuch der Vereinnahmung vonseiten des Staates entziehen kann, die Gründe für die kommende Revolution dabei in klare Worte fassend:

"Ich habe keinen Zweifel, dass jeder Ägypter sich des Ausmaßes der Katastrophe völlig im Klaren ist, auf die unser Land zusteuert. Es ist nicht bloß die reale Bedrohung durch Israel an unserer Grenze im Osten, die amerikanische Bevormundung oder die Schwäche unserer Regierung in der Außenpolitik: es sind alle Aspekte unseres Lebens. Wir haben keine Theater, keine Kinos und keine wissenschaftliche Forschung mehr; wir haben nur noch Festivals, Konferenzen und halbseidene Stiftungen. Wir haben keine Industrie, keine Landwirtschaft, Gesundheit oder Gerechtigkeit. Stattdessen blühen Korruption und Diebstahl. Und jeder, der Einspruch erhebt, bringt sich in Gefahr, zusammengeschlagen oder gefoltert zu werden. Eine ausbeuterische Minderheit hat uns unserer Seele beraubt."

Buchcover Khaled al-Khamissi: Taxi
Ägyptens Revolution vom 25. Januar literarisch vorweggenommen: Khalid al-Khamissis Bestseller "Taxi"

​​Das 2006/2007 erschienene Taxi-Buch des ägyptischen Autors Khalid al-Khamissi bringt mit jedem neuen Gespräch im zensurfreien Raum des Taxis die Wut und Verzweiflung einer ganzen Bevölkerung zum Ausdruck, die sich schließlich auf den Plätzen der Befreiung mit der Kreativität junger Ägypter paarte.

Neue subversive Frauenliteratur

Neben diesen drei Beispielen, die angesichts der Fülle an subversiver arabischer Literatur noch beliebig ergänzt werden könnten, haben seit den frühen 1990er Jahren auch eine Reihe arabischer Autorinnen – besonders aus dem Libanon, Ägypten, Syrien, Algerien, Marokko und Saudi-Arabien – die männliche Dominanz und die patriarchalen Strukturen in Gesellschaft und Familie radikal hinterfragt und neue, egalitärere Formen des menschlichen Zusammenlebens ausgelotet.

Die vielleicht größte Errungenschaft dieser neuen weiblichen Literatur ist neben ihrer Ideologiekritik und Skepsis gegenüber den großen nationalistischen Erzählungen die Bloßlegung einer Kultur der Gewalt im Öffentlichen und Privaten und der damit einhergehenden Unfähigkeit, intime Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen oder überhaupt zuzulassen, wie dies exemplarisch in Alawiyya Sobhs Romanen zu lesen ist.

Dies schließt auch einen schonungsloseren literarischen Umgang mit dem Thema Sexualität ein, der, aus einer dezidiert weiblichen Perspektive unternommen, eine ganze Reihe Tabus gebrochen hat, die als unantastbar galten.

Schließlich spielten bei der Schaffung eines revolutionären Bewusstseins der Fall 'Irak' und seine Geschichte eine entscheidende Rolle. Niemand hatte Diktatur und Führerkult so weit getrieben wie Saddam Hussein.

Alawiyya Sobh; Foto: © Suhrkamp Verlag
Alawiya Sobh wurde vor allem mit ihrem Roman "Marjams Geschichten" bekannt, in dem sie von den bewegenden Schicksalen dreier Frauen-Generationen im Libanon - von der französischen Mandatszeit bis in die Gegenwart - berichtet.

​​Und so kritisierte und entblößte niemand die menschenverachtenden Auswirkungen der Despotie so deutlich wie irakische Autoren. Ein herausragendes Beispiel für ein Gedicht, das subversiv den Sturz des Diktators antizipiert, stammt vom irakischen Lyriker Adnan as-Sa'igh. 1999 in Malmö verfasst, trägt es den Titel "Eine Episode aus der Heimat":

Das Standbild des Herrn Präsidenten langweilte sich gar sehr
und so stieg es herab von seinem goldenen Sockel
Es kehrte den Delegationen, den Blumen und den Chören
der Kinder den Rücken
und begann, sich unter die Menschen zu mischen
die ihm sogleich zuriefen
"Mit unsere Seele, mit unserem Blut
opfern wir uns für dich, oh …"

Da fühlte sich das Standbild etwas besser
doch als die anderen Standbilder davon erfuhren
stiegen auch sie auf die Plätze herab
und begannen, aufeinander loszugehen

Und die Leute schauten zu
und wussten nicht
wer denn nun der wahre Herr Präsident unter ihnen ist.
(Übersetzung Stephan Milich)

Die geschminkte, hässliche Fratze der Diktatur

Das Gedicht malt allerdings nicht nur das mögliche Ende einer Diktatur aus – den Tod des Führers durch Langeweile, Narzissmus und zu viele Doppelgänger. Es offenbart auch die tief sitzenden Ängste, die die Menschen jahrzehntelang beherrschten und zu passiven Zuschauern, zu Komparsen einer diktatorischen Szenerie machten und in manchen Ländern noch immer machen.

Lieder, Kinder und Blumen waren in jenem Land einzig dazu da, die hässliche Fratze der Diktatur zu schminken. Diese Ängste jedenfalls konnten dieses Jahr die Menschen in den arabischen Ländern nicht mehr davon abhalten, auf die Straße zu gehen und den Sturz des Systems zu fordern.

El General auf einem Konzert im Rahmen des Poesiefestivals in Berlin im Juni 2011
Aufschrei gegen das Unrecht der Ben Ali-Dikatur: Mit seinem Song "Rais Lebled" avancierte der 22jährige Rap-Star El General zu einem der populärsten Sänger der arabischen Revolution.

​​Direktere Worte und unter Jugendlichen zunehmend mehr Gehör als die 'klassischen' Literaten und Dichter finden in jüngster Zeit junge Dichter und Rapper wie El General (1989) aus Tunesien, der Ende 2010 seinen Song "Rais Lebled" ins Internet stellte und damit zu einem der populärsten Sänger der arabischen Revolution wurde:

Präsident!
Ich richte heut' das Wort an dich
In meinem Namen und im Namen des ganzen unterjochten Volks!
2011 gibt's noch immer Menschen, die vor Hunger sterben
Menschen, die arbeiten wollen, um zu leben
aber Ihre Forderungen bleiben ungehört.
(Übersetzung Rasha Khayat und Mahmoud Khalifa)

Der bekannteste syrische Sänger aus den Reihen der Opposition, Ibrahim Qashush aus Hama, musste für seine Revolutionslieder im Juli dieses Jahres sterben. Man fand seine Leiche mit herausgeschnittenen Stimmbändern im Orontes, wie die Zeitschrift "Inamo" in ihrer letzten Ausgabe berichtete. Sein Song wird wohl auch weiterhin von den Demonstranten gesungen werden:

Als wir Freiheit verlangten
Schimpften sie uns Terroristen
Als wir unsere Rechte zurückforderten
Schimpften sie uns Fundamentalisten
Syrien sehnt sich nach Freiheit
Syrien verlangt nach Freiheit
Wir werden Bashar vertreiben
Durch unseren starken Willen allein
(aus einer Solidaritätserklärung des PEN-Zentrums vom 26.07.2011; leicht verändert)

Der Sound der Revolution vom Tahrirplatz

Nicht nur der arabische Hip-Hop oder traditionellere musikalische Stilrichtungen, auch die Dichtung gibt sich seit Januar diesen Jahres wieder kämpferisch. So bringt der irakische, in London lebende Altmeister arabischer Dichtung Saadi Yusuf, 1934 bei Basra geboren, in seinem kurzen Revolutionsgedicht "Lied vom Tahrirplatz" vom 13. März 2011 die Forderung der Demonstranten in einfachen Worten auf den Punkt:

"Auf dem Tahrirplatz stehen wir / tagein tagaus (…) Hier harren wir aus, bis wir aus deinem Namen wieder eine Heimat gemacht haben. / Du wirst beschützt von den Arbeitern / vom Volk / und von Studenten / ja sogar vom Soldat wirst du beschützt, auch wenn ihn die Amerikaner ausgebildet haben, egal – / Bagdad / Du wirst aus dem Namen 'Irak' wieder eine Heimat machen / eine Heimat glücklich / und frei." (Übersetzung Stephan Milich)

Neben diese spontane Wortkunst, die als zeitgenössischer Agitprop zentraler Bestandteil der revolutionären Kultur insbesondere in Ägypten, Tunesien und Syrien geworden ist, werden sich sicherlich noch viele weitere Texte gesellen. Zu wünschen wäre, dass die arabische Literatur auch in Zukunft einen kritischen Beitrag zu einer demokratischen und friedlichen Entwicklung leistet, indem sie reflektiert, was demokratisch, frei und gerecht in dieser Welt bedeuten kann – und damit auch anderen Regionen neue Impulse gibt. Denn der Wandel hat ja gerade erst begonnen.

Stephan Milich

© Stephan Milich/Qantara.de 2012

Der Beitrag erschien in Heft 111 der Literaturnachrichten, Winter 2011/12. Mit freundlicher Genehmigung von litprom. Der Autor ist Kurator der Literaturtage, die am 20. und 21. Januar 2012 im Frankfurter Literaturhaus zum Thema "Literatur und Arabischer Frühling" stattfinden.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de