Die poetische Stimme Palästinas
"Setz ab hier und jetzt von den Schultern Deine Bahre // Gibt Deinem Leben Gelegenheit, die Geschichte // Zu korrigieren." Der palästinensische Lyriker Mahmoud Darwisch, der in jungen Jahren als "Widerstandsdichter" galt und der heute zu den bedeutendsten arabischen Dichtern zählt, hat künstlerisch, menschlich, politisch und körperlich alle denkbaren Höhen und Tiefen erlebt.
Mit 63 Jahren, nach einer lebensbedrohlichen Herzkrankheit und angesichts der Tatsache, dass sein Volk nach jahrzehntelangem Kampf immer noch keinen eigenen Staat hat, hat Darwisch mit seinem Gedichtzyklus "Entschuldige Dich nicht für Getanes" eine persönliche und politische Standortbestimmung unternommen.
Dass eine kleine Auswahl aus diesem Gedichtband diesmal schon wenige Monate nach Erscheinen des arabischen Originals in deutscher Übertragung vorliegt, ist dem syrischstämmigen Übersetzer Adel Karasholi aus Leipzig zu verdanken.
Karasholi, selbst Lyriker und Chamisso-Preisträger, hat unter dem Titel "Wo Du warst und wo Du bist" auch Gedichte aus drei früheren Sammlungen seines Freundes Darwisch teils neu, teils zum ersten Mal, ins Deutsche übertragen. Damit erhält das deutschsprachige Publikum nicht nur Zugang zu bislang unbekannten Werken von Darwisch, sondern auch die Möglichkeit, das jüngere Schaffen des palästinensischen Dichters im Zusammenhang nachzuvollziehen.
In den lyrisch anspruchsvollen, bilderstarken Versen von Warum hast Du das Pferd alleingelassen? (1995) hat Darwisch sein politisches Engagement der frühen Jahre scheinbar hinter sich gelassen. Doch der sich andeutende poetische Rückzug auf das eigene Ich, das sprachlich facettenreiche Spiel mit dem Selbst und dem Anderen, spiegelt auch Darwischs tiefe Enttäuschung über das Abkommen zwischen der PLO und Israel in Oslo von 1993 wieder.
Enttäuschung über Oslo-Abkommen
Die Konzessionen von Yassir Arafat hatten den Dichter seinerzeit veranlasst, seinen langjährigen Posten als Kulturchef der PLO abzugeben und den palästinensischen Nationalkongress zu verlassen. Einige Verse scheinen darauf anzuspielen: "Ich sehe alte Propheten // Wie sie barfüßig gen Jerusalem hinaufsteigen // Und frage: Gibt es keinen neuen Propheten // Für unsere neue Zeit?"
Vier Jahre später ist Darwisch heiterer, entspannter. Er lebt jetzt – ironischerweise dank der Oslo-Vereinbarungen - in Ramallah im Westjordanland, und ist damit nach über zwanzig Jahren erzwungenem Exil der verlorenen Heimat zumindest ein Stück näher gekommen.
Mit Belagerungszustand meldet sich Darwisch Anfang 2002 als politischer Dichter zurück. Die Texte entstanden während der monatelangen Belagerung Ramallahs und des Hauptquartiers von Präsident Yassir Arafat im Frühjahr 2001, in deren Verlauf Darwischs Arbeitsplatz, das Sakakini-Kulturzentrum in Ramallah, beschossen und sein Büro von israelischen Soldaten verwüstet wurde.
Belagerungszustand offenbart Darwischs Verbitterung über Israels Unwillen, wirklich Frieden mit den Palästinensern zu schließen, aber auch über westliche Regierungen, die der gewaltsamen Vertreibung der Palästinenser tatenlos zuschauen, und gleichzeitig behaupten, die Araber seien von sich aus zu Demokratie und Fortschritt nicht fähig.
Einen "Pseudo-Orientalisten" konfrontiert Darwisch sarkastisch und auch ein wenig traurig mit dem Vorwurf: "Es könnte sein, was Du vermutest // Nehmen wir an, dass ich unwissend bin, unwissend // Und dumm/Und ich beherrsche das Golfspiel nicht // Und ich verstehe nichts von Technologie // Und ich kann kein Flugzeug steuern/Deswegen also nimmst Du mir mein Leben, um damit // Dein Leben zu schmieden?"
Die Textauswahl des Übersetzers Adel Karasholi umfasst den Zeitraum von 1995 bis 2004. Sie berücksichtigt aber nur einen Teil der Gedichtbände, die Darwisch in dieser Zeit veröffentlicht hat, und beschränkt sich auf die Gedichte selbst.
Beschäftigung mit der palästinensischen Identität
Wer das Gelesene zeitgeschichtlich und literaturwissenschaftlich einordnen möchte, wird bei dem jungen Arabisten und Übersetzer Stefan Milich fündig. Unter dem Titel "Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit" bietet Milich die nicht durchweg originelle, aber bislang umfassendste Auseinandersetzung mit Leben und Werk Mahmoud Darwischs.
Ins Zentrum seiner materialreichen Analyse stellt Milich das Thema Identität, und zwar in zweifacher Hinsicht: als nationale – palästinensische – und als persönliche – künstlerische - Identität.
Milich beschränkt sich nicht auf reine Textanalysen oder auf einen Abgleich von Darwischs lyrischem Werk mit der Ereignisgeschichte, sondern er steckt den Rahmen weiter.
Der verbreiteten Annahme, die Herausbildung der palästinensischen Identität sei in erster Linie eine reine Reaktion auf die Gründung des jüdischen Staates und die Vertreibung der Palästinenser 1948 gewesen, setzt Milich die Bewegung des "neuen Palästinensertums" der dreißiger Jahre entgegen, als die Bewohner Britisch-Palästinas sich gegen britische und zionistische Besatzer wehrten. Die Vertreibungswellen von 1948 und 1967 und das Exil verstärkten das Gefühl der palästinensischen Identität, ebenso wie das Gefühl der Bedrohung.
Dichter, allen voran Mahmoud Darwisch, spielten und spielen eine entscheidende Rolle für die Bewahrung und Weiterentwicklung dieser Identität – bis hin zur totalen Identifikation der Person des Dichters mit der Idee von "Palästina".
Eine wertvolle Einführung, die manche Fragen offen lässt
Aber gerade Mahmoud Darwisch stellt diese Reduzierung seiner Person und seiner Arbeit auf die "nationale Sache" nach und nach immer radikaler in Frage. Darwischs Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach individuellem Ausdruck und kollektiver, nationaler Selbstbehauptung als "Stimme des palästinensischen Volkes" lotet Stefan Milich sensibel aus, wobei er vier Phasen unterscheidet, in deren Verlauf Darwisch die eigenen Positionen als Mensch und als Künstler immer stärker hinterfragt, um zu einer immer komplexeren Ästhetik und zu einem immer dynamischeren Identitätsbegriff zu gelangen.
Als Widerstandsdichter hatte Darwisch in den sechziger Jahren begonnen, und in gewissem Sinne sei er das noch immer, schreibt Stefan Milich: allerdings sehe Darwisch heute in der Liebe und der Schönheit mehr subversives Potential als in politischen Programmen.
Milichs Studie ist für jene, die Darwisch bislang nicht oder nur kursorisch kannten, eine wertvolle Einführung. Wer sich mit Darwisch bereits befasst hat, vermisst indes manche Fragen. Zum Beispiel die nach Darwischs Verhältnis zu Yassir Arafat und anderen politischen Machthabern in der arabischen Welt.
Oder warum Darwisch nicht häufiger und vernehmlicher zum Nahostkonflikt und zu innerpalästinensischen Problemen Stellung nimmt. Undiskutiert bleibt auch, warum Darwisch sich kaum jemals konkret zu Menschenrechtsverletzungen in der arabischen Welt geäußert hat.
Martina Sabra
© Qantara.de 2005
Literatur:
Mahmoud Darwish
wo du warst und wo du bist
Aus dem Arabischen von Adel Karasholi
140 Seiten, gebunden
€ 14,80/sFr 26,60
ISBN 3-927743-71-2
Stephan Milich
Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit
200 Seiten, Paperback 19.80 Euro
ISBN 3-89930-083-1
Wir haben ein Land aus Worten. Ausgewählte Gedichte 1986-2002 (arabisch/deutsch). Ammann Verlag, Zürich 2002
Weniger Rosen. Gedichte (arabisch/deutsch). Verlag Hans Schiler, Heidelberg 2002
Ein Gedächtnis für das Vergessen. Lenos Verlag, Basel 2001
Palästina als Metapher. Gespräche über Literatur und Politik. Palmyra Verlag, Heidelberg 1998
Qantara.de
Mahmud Darwisch, Dan Bar-On
Remarque-Friedenspreis für einen Palästinenser und einen Israeli
2003 erhielten der israelische Wissenschaftler Prof. Dr. Dan Bar-On und der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis. Samir Grees von der Deutschen Welle war dabei.
Khalid al-Maaly, Mona Naggar
Lexikon arabischer Autoren
Trotz ihres bedeutenden Stellenwerts in der Weltliteratur wird die arabische Gegenwartsliteratur im deutschsprachigen Raum meist wenig zur Kenntnis genommen. Das Lexikon könnte eine Lücke schließen.
Dossier: Deutsch-arabischer Literaturaustausch
Die Literatur ist immer ein zentrales Medium des Kulturdialogs. Dabei sind es oft Aktivitäten, die im Kleinen, ja Verborgenen stattfinden: Übersetzer und Verleger, die sich am Rande des Existenzminimums um die geliebte fremde Kultur verdient machen. Wir präsentieren deutsche und arabische Initiativen.
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