Flucht trotz alledem
Als er an Weihnachten gegen Abend sein Zelt verlässt, fragt sich der junge Mann aus Burkina Faso, wo er am nächsten Morgen sein wird. Ob er es dann nach Europa geschafft hat? Und in einer Flüchtlingsunterkunft irgendwo in Melilla gelandet sein wird? Vielleicht auch auf der Straße? Oder würde er womöglich an den hohen Grenzzäunen scheitern und von der marokkanischen Polizei geschnappt werden? Diese Gedanken mögen in seinem Kopf umher gekreist sein, als er sich mit einer großen Gruppe von Flüchtlingen aus Afrika südlich der Sahara auf den Weg machte, um die Grenzanlage von Melilla zu bezwingen.
Als eine kleine Mission von Misereor ihn kurze Zeit später trifft, sitzt der Zwanzigjährige mit zwei gebrochenen Beinen im Rollstuhl. Die Leute von dem katholischen Hilfswerk dokumentieren den Fall, doch seinen Namen nennen sie nicht. Auch die anderen Merkmale, die ihn identifizierbar machen könnten, werden nur andeutungsweise aufgegriffen.
Dass er mit vielen anderen gestrandeten Migranten in den Bergen bei Nador wohnt, ist alles, was man sonst noch über ihn erfährt. Und dass er es fast geschafft hätte. Zwei Zäune samt Stacheldraht, Kameras und Sensoren hatte er überwunden, den dritten schon erklommen, bevor ihm der Sprung sechs Meter in die Tiefe zum Verhängnis wird.
Zwei unscheinbare Türen – zurück nach Marokko
Die Guardia Civil lässt ihn fünf Stunden lang auf spanischem Boden liegen, so wird Misereor später den Vorfall berichten. Auf diese Weise stellt der spanische Grenzschutz sicher, dass der gescheiterte Geflüchtete seine Geschichte als abschreckendes Beispiel erzählt – all jenen, die nach ihm das Gleiche versuchen wollen. Erst dann heben die Beamten ihn auf und tragen ihn durch zwei unscheinbare Türen, die durch die Zäune führen. Zurück nach Marokko.
Warum hat der Mann keinen Namen? Vielleicht weil er stellvertretend für die vielen anderen steht, denen genau dasselbe passiert. Und seinen Namen, seine Erfahrungen zu einem Einzelschicksal machen und so aus der kollektiv erlebten Gewalt herausheben würde. Außerdem will er ihn nicht preisgeben, so sagt er, weil er Angst hat, dass seine Familie in Burkina Faso dann sehen könnte, wie er in Marokko lebt. Dass er es nicht geschafft hat, nach Europa zu gelangen.
Seine Scham ist verständlich: Mit anderen Schicksalsgenossen haust er in einem Wald in den Bergen. Dort haben sie aus Zelten und Plastikplanen Unterkünfte für sich gebaut. Ohne fließendes Wasser, Nahrung, richtige Decken oder medizinische Versorgung sind die Geflüchteten dort im Freien allen Witterungen ausgesetzt – Männer, Frauen, Kinder, sogar Babys. Manchmal kommen Einheiten der marokkanischen Polizei, verprügeln die Bewohner und verwüsten alles. Auch dieses Vorgehen dient der Abschreckung und wird von der Europäischen Union mindestens billigend in Kauf genommen.
Die Routen verlagern sich
Nur zwei Monate zuvor wurde Spanien für einen ähnlichen Fall der "heißen Abschiebung", wie sie dem Mann mit den gebrochenen Beinen widerfuhr, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Doch offenbar ließ sich die Regierung davon nicht beeindrucken. Aus zwei Gründen: Erstens handelt sie auch im Auftrag der EU, die um jeden Preis verhindern will, dass noch mehr Menschen nach Europa kommen.
Zweitens hat Spanien in den letzten Jahren auf genau diese Weise sehr erfolgreich Flüchtende bekämpft. Im Jahr 2014 gelangten deshalb weniger als 2.000 von ihnen über die Grenzen in die Exklaven Ceuta und Melilla oder über die Straße von Gibraltar auf spanisches Festland. Die westliche Mittelmeerroute über Marokko galt lange Zeit als dicht. Viele wählten stattdessen lieber den alternativen Weg über Libyen. Doch das ändert sich gerade.
Im letzten Jahr stieg die Zahl derjenigen, die über Spanien kommen, auf über 20.000. Verglichen mit der zentralen Mittelmeerroute über Libyen nach Italien ist das immer noch wenig, denn dort setzten mit fast 120.000 sechsmal mehr Migranten über.
[embed:render:embedded:node:30812]Doch die Zahlen zeigen einen Trend: Die Routen verlagern sich wieder. Die Ankünfte in Italien haben im letzten Jahr um ein Drittel abgenommen, in Spanien aber zugelegt. Mehr als dreimal so viele wie im Jahr zuvor sind dort angekommen. Dass sich die Flüchtlingstrecks verschieben, liegt an mehreren Weichenstellungen, welche die EU und allen voran Italien im letzten Jahr vorgenommen haben.
Dazu gehört, dass die Europäische Union die zentrale Mittelmeerroute an ihrem Knotenpunkt im nigrischen Agadez blockiert hat. Seitdem suchen sich viele Migranten aus Ländern südlich der Sahara neue Wege, weichen auf die westliche Route über Algerien und Marokko aus. Rund 40.000 subsaharische Geflüchtete sollen so in Marokko laut Misereor gestrandet sein und auf ihre Überfahrt warten.
Flucht nach Europa – koste es, was es wolle
Doch noch wirksamer war wohl eine andere Maßnahme, die Italien im Alleingang unternahm. Im letzten Sommer ließ sich die Regierung zu einer Verzweiflungstat hinreißen und bezahlte Milizen dafür, als Küstenwache zu fungieren und Flüchtlingsboote an die libysche Küste zurückzuschleppen. Denn man wollte um jeden Preis den Andrang an italienischen Küsten stoppen, der ein neues Rekordhoch erreicht hatte.
Die Lage war dramatisch, die Regierung in Panik. In nur vier Tagen im Juni waren 12.000 Menschen in italienischen Häfen gelandet. Verzweifelte Appelle an die Solidarität der anderen Mitgliedstaaten verhallten ungehört. Deshalb riegelte Italien das zentrale Mittelmeer kurzerhand ab.
Seit die Zentralroute dicht ist, versuchen wieder mehr Menschen, die hohen Zäune und den Klingendraht von Ceuta und Melilla zu überwinden. Obwohl das fast unmöglich ist. Das zeigt eine Sache: Flüchtende lassen sich nicht aufhalten, indem Grenzen dicht gemacht werden. Selbst der von bewaffneten Milizen verschlossene Weg von Libyen aus ist in den letzten Wochen wieder durchlässiger geworden, obwohl er so gefährlich ist wie nie und in den ersten Wochen des Jahres 2018 schon 400 Menschen ertrunken sind.
"Migration wird sich auch weiterhin ihre Wege suchen, koste es, was es wolle", sagt deshalb auch Martin Bröckelmann-Simon, der Geschäftsführer von Misereor, der den jungen Mann aus Burkina Faso im Rollstuhl in Marokko getroffen hat. Obwohl er sich an den Zäunen Melillas beide Beine brach, stimmt dieser zu. Er ist sich sicher: "Es war einfach nicht mein Tag. Doch dieser wird noch kommen!"
Es wäre gut, einen Namen mit seinem Schicksal verbinden zu können – und ein Gesicht. Als Namenlose bleiben die Gestrandeten von Marokko eine anonyme Masse. Das macht es uns noch leichter zu vergessen, was sie jeden Tag dort erleben.
Susanne Kaiser
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