Die Hierarchien der Bedürftigen
In den Essays der Anthologie Refugees Worldwide: Literarische Reportagen, die von Luisa Donnerberg und Ulrich Schreiber zusammengestellt wurden, tauchen Syrer an den ungewöhnlichsten Orten auf. Diese starke Präsenz ist aus dem Inhaltsverzeichnis des Buches zunächst gar nicht ersichtlich. Schließlich stammt nur einer der vierzehn Beiträge von einem syrischen Autor.
Die Werke der übrigen internationalen Autoren befassen sich mit den Geschichten salvadorianischer Flüchtlinge in Belize, haitianischer Flüchtlinge in Brasilien, hazaranischer Flüchtlinge aus Pakistan, ukrainischer Flüchtlinge innerhalb der Ukraine und eines einsamen Kongolesen, der nach Tokio geflohen ist.
Und doch begegnen uns unvermutet immer wieder Syrer. Sie erscheinen oft nicht als Individuen, sondern als Gruppe, an der andere Flüchtlingsgeschichten gemessen werden. Die Syrer werden zum Kontrapunkt oder zum Gegenstand der Klage. Oder sie dienen zur Abgrenzung von anderen Flüchtlinge, die nicht syrisch sind.
Der erste Essay, "Meine Identität ist das Exil" von Nora Bossong spielt in den USA. Bevor Bossong auf verschiedene Exilanten eingeht, stellt sie fest, dass die US-Regierung ihre Zusage nicht eingehalten hat, etwa 10.000 syrische Einwanderer aufzunehmen.
Syrer als muslimischer Monolith
Im Essay "Immer noch Menschenfresser" von Andréa del Fuego erscheinen Syrer in einem weit weniger freundlichen Licht. Bei del Fuego sind die Syrer ein kaum unterscheidbarer, privilegierter und ganz und gar muslimischer Monolith.
Die Syrer haben es leicht, meint Del Fuego. Denn in Brasilien konnten sie ihren Weg zur Integration finden und haben eine Geschichte, die der ganzen Welt bekannt ist. Die Autorin zitiert einen Flüchtlingsarbeiter, der sämtliche muslimischen Gemeinden in Sao Paolo ungeschminkt über einen Kamm schert.
Doch del Fuego ist nicht die einzige Autorin, die auf die relativ privilegierte Stellung der Syrer in manchen Flüchtlingsgemeinden verweist.
Der marokkanische Autor Najat El Hachmi schreibt in "Geflüchtete und Migranten an der Grenze von Nador" über das schwierige Leben als Flüchtling. Doch die meisten Syrer sieht er im Vergleich mit Afrikanern aus Ländern südlich der Sahara im Vorteil.
"Syrer können sich unter Marokkanern unbemerkt bewegen, aber die Schwarzen können ihre Hautfarbe nicht verbergen. Eine Hautfarbe, die eine spezielle Form der Brutalität erdulden muss".
Das gelte nicht nur für Marokko, schreibt El Hachmi. Die Kriege südlich der Sahara "erfahren nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie der Krieg in Syrien: Weil es sie schon lange gibt, weil sie chronisch sind und – wahrscheinlich auch – weil sie in Afrika stattfinden".
Syrer finden sich nicht nur in den Essays aus Marokko und Brasilien. "Ewiger Transit" von Artem Tschapa handelt eigentlich von ukrainischen Flüchtlingen. Aber auch hier werden Syrer erwähnt. Allerdings eher, um darauf hinzuweisen, dass Ukrainer nicht ins Klischee westlicher Journalisten passen.
Auf der Suche nach dem perfekten Flüchtling
Die griechische Romanautorin Amanda Michalopoulou erzählt in "Nours Blick" von ihrer Irritation beim Besuch syrischer Flüchtlinge. Schließlich findet Michalopoulou einen Flüchtling nach ihrem Geschmack, nämlich Nour, ein liebenswürdiges, aufgewecktes Mädchen von 12 Jahren. "Wenn ich an sie denke, denke ich nicht an einen syrischen Flüchtling. Sie braucht dieses Etikett nicht. Ich denke einfach an ein junges Mädchen mit außergewöhnlicher Ausstrahlung".
Nils Mohl kennt das Bild vom "idealen Flüchtling". Sein Essay "Land der Helden: Litauens ganz eigene Flüchtlingskrise" handelt von zwei Männern: Einem syrischen Journalisten, der fließend Englisch spricht, und einem afghanischen Flüchtling, Basir Yousofy, der Litauisch spricht.
Beide Männer sehen gut aus, sind ehrgeizig und gut ausgebildet. Beide könnten die "idealen" Flüchtlinge sein. Doch nur Basir hat die richtigen Verbindungen, um der Favorit zu werden: Er ist in einem populären YouTube-Video zu sehen. Auch ist er mit dem litauischen Kommandanten Jurgis Norvaisa gut bekannt. Indes wird der syrische Journalist in eine kleine litauische Stadt ausquartiert.
Im Kapitel "Am Fuße des Tokyo Skytree: Die Geschichte eines Geflüchteten aus dem Kongo" erzählt der japanische Schriftsteller Masatsugu Ono von einem weiteren "idealen" Flüchtling. Diesmal aus der Demokratischen Republik Kongo. Massamba Mangala, ein Lehrer und Aktivist, musste aus seinem Land fliehen. Obwohl er anfangs weder Englisch noch Japanisch beherrscht, gelingt es ihm, sich die Sympathie eines ausgedehnten Netzes an japanischen Unterstützern zu sichern.
Sogar in diesem Essay tauchen Syrer auf: Masatsugu Ono legt dem Leser nahe, dass Syrer es auf der Flucht wohl kaum so schwer haben könnten wie Mangala.
Eine radikale Wende vollzieht die türkische Journalistin Ece Temelkuran in ihrem pointiert satirischen Essay "Aus dem Leben des aufsehenerregenden Opfers". Sie stellt die Idee des "perfekten Flüchtlings" auf den Kopf.
Allzeit bereit, in die Opferrolle zu schlüpfen
Temelkuran wollte eigentlich einen Flüchtling in Istanbul porträtieren. Der Flüchtling verschwand allerdings. Bald darauf war Temelkuran selbst gezwungen, aus Istanbul zu verschwinden. Sie floh nach Zagreb. Temelkuran betrachtet daraufhin ihr eigenes Leben im Exil. Irritiert stellt sie fest, dass auf der UNHCR-Website unter dem Titel "Flüchtlinge, die etwas verändert haben" nur "zwanzig Profile veröffentlicht sind". Was ist mit den Millionen anderen Schicksalen?
Temelkuran schreibt darüber, wie es sich anfühlt, auf Veranstaltungen zu sprechen: "Wie ein Flüchtling, der auf ein Stück Brot wartet und ein ordinäres Ticket in der Hand hält, soll ich jederzeit bereit sein, in meine Opferrolle zu schlüpfen, wenn das Theaterstück auf der intellektuellen Bühne gespielt wird".
Temelkuran fragt sich, ob ihre Flucht aus der Türkei nicht übereilt war. Der syrische Schriftsteller Khaled Khalifa schreibt über seine Weigerung, die Heimat zu verlassen – ganz gleich, was passiert. In "Der Flüchtling - ein Leben in der Leere" erklärt Khalifa, warum er Damaskus nicht verlassen hat, selbst als seine Familie, Freunde und Nachbarn aus der Stadt gingen.
Weitere Schicksale von Flüchtlingen werden in den Essays des Bandes kontextualisiert, so auch Mohammad Hanifs Abhandlungen über die Hazara in Pakistan oder der nigerianische Schriftsteller Abubakar Adam Ibrahim, der über die Schwierigkeiten der Menschen auf der Flucht vor der Terrororganisation Boko Haram schreibt. Der kenianisch-somalische Reporter Abdi Latif Dahir berichtet über Dadaab, "als das größte Flüchtlingslager der Welt", das nach Einwohnerzahl größer ist als mancher Staat.
Und schließlich zeichnet der salvadorianische Autor Juan Jose Martínez d'Aubuisson in "Belize: Das gelobte Land der Salvadorianer" ein eindrucksvolles Porträt der Menschen auf der Flucht vor der Bandengewalt in El Salvador. Hier führen nicht Nord und Süd Krieg gegeneinander oder verschiedene religiöse Sekten, sondern Banden mit futuristisch klingenden Namen wie MS-13 und B-18.
Marcia Lynx Qualey
© Qantara.de 2017
Aus dem Englischen von Peter Lammers
"Refugees Worldwide: Literarische Reportagen", hrsg. von Luisa Donnerberg und Ulrich Schreiber, 219 Seiten, Wagenbach Verlag 2017, ISBN 978-3-8031-2783-9