Für eine Kultur des genauen Hinschauens
Herr Schiffauer, verschließt der Staat die Augen vor der harten Realität der Einwanderungsproblematik?
Werner Schiffauer: Zurzeit wird jedes Phänomen auf Migration und Integration bezogen. Es gibt ein Problem mit Gewalt von jungen Einwanderern, und die Kriminologen sagen, dass die Zahl der Straftaten bei Jugendlichen zwar zurück geht, aber die Zahl der problematischen Mehrfachtäter konstant bleibt oder sogar steigt. Dieses Problem haben alle Einwanderungsgesellschaften zu bewältigen.
Warum ist der Anteil gewalttätiger, krimineller muslimischer Jugendlicher dann so hoch?
Schiffauer: Nach Angaben des Kriminologen Christian Pfeiffer ist in Deutschland die Kriminalitätsrate von Aussiedlern, Migranten aus Jugoslawien und von Jugendlichen aus der Türkei besonders hoch. Aber ich finde es problematisch, dass man überhaupt von muslimischen Jugendlichen spricht, weil man das Problem auf diese Weise islamisiert. Was früher auf Integrations- und soziale Probleme zurückgeführt wurde, wird heute mit dem Islam in Verbindung gebracht. Das halte ich für katastrophal.
Was stört Sie daran?
Schiffauer: Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die Sachlage viel komplizierter ist. Nehmen wir zum Beispiel die Diskussion um Gewalt an der Rüttli-Schule in Berlin. Hier wurde auch der Islam verantwortlich gemacht. Dabei stellte sich heraus, dass es um palästinensische Jugendliche mit Fluchterfahrungen und einem äußerst ungesicherten Duldungsstatus ging, mit all den bekannten sozialen Folgeproblemen wie depressive Grundstimmung, Verunsicherung in der Rollenkompetenz bei den Männern und Gewalt in der Familie. Die Jugendlichen haben wegen des Duldungsstatus', keine Aussicht eine Lehrstelle zu finden, sie haben keine Zukunft.
Wenn man ein soziales Problem so "islamisiert", dann verzerrt man die Realität. Man muss sich genau anschauen, wer die Täter sind. Was wir dringend brauchen, sind qualitative Tiefenstudien, die uns einen Eindruck von den Problemkonstellationen in Migrantenfamilien geben.
Straßengewalt ist das eine, andere junge Männer driften in die islamistische Terrorszene ab. Wo sehen Sie die Ursachen dafür?
Schiffauer: Man muss strikt zwischen politischer Gewalt und Straßengewalt unterscheiden. Junge Männer, die auf der Straße gewalttätig werden, haben mit dem Islam oft nicht viel am Hut. Terroristen dagegen verüben Verbrechen im Namen des Islam. Dabei sind ihre Biografien äußerst heterogen. Die beiden so genannten Kofferbomber aus dem Libanon waren nur ein Jahr in Deutschland, haben versucht, an der Uni Fuß zu fassen und wandten sich dann dem Terror zu. Die Hamburger Zelle, aus der auch Mohammed Atta stammte, war gut integriert und hat sich dann mobilisieren lassen.
Die jungen Leute, die im Sauerland einen Anschlag planten, waren zum Teil deutsche Konvertiten aus bürgerlichen Elternhäusern. Wenn es eine Gemeinsamkeit zwischen den Konvertiten und den zugewanderten Terroristen gibt, dann die, dass 80 Prozent aller Terroristen Akademiker sind. Das ist kein Zufall, denn junge Studenten tendieren dazu, radikalisierungsfähig zu sein.
Soll der Verfassungsschutz die Gemeinden überwachen, um solche Tendenzen frühzeitig aufzuspüren?
Schiffauer: Die Gemeinden sind nicht die Brutstätten solcher Zellen. Die treffen sich eher in der TU-Mensa, sie holen sich ihre Informationen aus dem Internet und formen in Diskussionszirkeln ihr Weltbild. In den Gemeinden, die im Zentralrat oder im Islamrat der Muslime zusammengefasst sind, wird versucht, ein Gegenprogramm zum Radikalislamismus zu entwickeln. Aus Sicht der revolutionären Muslime engagieren sich dort die "Lauwarmen" und "Kompromissler".
Wie sieht es aus, wenn Hassprediger die Gemeinden aufstacheln?
Schiffauer: Es gibt vereinzelt schon Hassprediger, z.B. in Ulm, aber die Gemeinden haben selber ein hohes Interesse daran, Hassprediger und Scharfmacher zu kontrollieren und zu isolieren. Eine starke Gruppe von Muslimen in den Gemeinden hat den Wunsch, in die deutsche Gesellschaft integriert zu sein. Es ist die Ausnahme, wenn populistische Prediger radikale Töne von sich geben und von der Gemeinde getragen werden. Bei Milli Görüs wurden in den letzten Jahren etwa fünf dieser Hassprediger von der Gemeinde kalt gestellt. In vielen Gemeinden gibt es einen Richtungskampf; im Augenblick sind aber die Gruppen stark, die auf Integration setzen.
Der Staat kann doch nicht zuschauen, ob die Gemeinden sich irgendwann von Hasspredigern distanzieren?
Schiffauer: Es gibt ja die nötigen Paragraphen gegen Volksverhetzung und die strafrechtliche Handhabe. Mein Unbehagen wächst dort, wo man das Ausländerrecht als Waffe gegen Hassprediger nutzt. Man gerät schnell in den Verdacht, ein Hassprediger zu sein. Es kann reichen, in der Gemeinde ein Bittgebet für die Opfer des Irakkriegs zu sprechen – das weiß ich aus eigenen Gutachten für Gerichte. Das Ausländerrecht bietet, anders als das Strafrecht, kaum Möglichkeiten für den Betroffenen sich zu wehren. Hier wird mit dem Ausländerrecht die Waffe der Ausweisung schnell gezückt. Das funktioniert nämlich auch dann, wenn sich Vorwürfe in einem strafrechtlichen Verfahren nicht als rechtskräftig erweisen würden.
Was kann man tun, um die Situation zu entschärfen?
Schiffauer: Ich plädiere für eine Kultur des genauen Hinschauens. Die Waffen des Strafrechts sind durchaus anzuwenden. Wenn jemand Volksverhetzung betreibt, muss das sanktioniert werden. Aber ich bin gegen ein zweifaches Strafrecht, eines für Deutsche und eines für Ausländer. Mit einer Ungleichbehandlung leistet man genau denjenigen Vorschub, die argumentieren, Ausländer seien in Deutschland rechtlos. Von einer Gesellschaft, die alle auf gleicher Höhe behandelt, geht eine ungleich höhere Integrationskraft aus.
Interview: Claudia Mende
© Qantara.de 2008
Werner Schiffauer lehrt Kulturanthropologie an der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder. Seine ethnologischen Fallstudien wie "Die Gottesmänner – türkische Islamisten in Deutschland" (Suhrkamp 2000) geben einen Einblick in die Lebenswelt türkischer Migranten. Schiffauer ist Mitglied im Rat für Migration und Mitherausgeber des Migrationsreportes
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