Iran als Zufluchtsort vor Nazi-Deutschland
Am Anfang stand für Mikhal Dekel eine verblüffende Erkenntnis. Jahrelang war es selbstverständlich, dass ihr ihr Vater Hannan ein "Tehran Child" war. Der Begriff bezeichnet etwa 1.000 polnisch-jüdische Kinder, die 1943 aus Teheran nach Palästina evakuiert wurden – als Teil einer Odysee über Sibirien, Usbekistan, Iran, Karatschi und Ägypten. Die erfolgreiche Rettungsaktion der Zionistischen Weltorganisation grenzte damals für viele an ein Wunder.
Doch was hinter der so geläufigen Vokabel steckte, dämmerte der in Haifa geborenen Literaturwissenschaftlerin erst 2007, über zehn Jahre nach dem Tod ihres Vaters. Salar Abdoh, iranstämmiger Kollege ihrer New Yorker Universität, wies Dekel auf einen Artikel über die "Tehran Children" hin. "Bis zu diesem Moment hatte ich über das Teheran in diesem Begriff nie als tatsächlichen Ort nachgedacht", gibt Dekel zu.
Dieser tatsächliche Ort irritiert Dekel. Wie verhält sich diese Geschichte von Schutz und Rettung zum Antisemitismus und -zionismus der iranischen Führung in der jüngeren Geschichte? Das ist eine der Leitfragen des Buches, an dem Dekel zunächst zusammen mit Abdoh arbeitet, dessen Vater vor der Islamischen Revolution geflüchtet war. Dekel beschreibt es als eine Chance, "die tiefe Sackgasse zwischen Israel und der Islamischen Republik zu umgehen".
Folglich umfasst das erste von insgesamt neun Kapiteln einen Abriss zur langen Geschichte des iranischen Judentums. Derzeit leben etwa 8.500 Juden in Iran, vor 1979 waren es über 100.000. Der Rest des Buches folgt chronologisch den Stationen der Fluchtroute Hannan Teitels, die im ostpolnischen Ostrów Mazowiecka ihren Anfang nahm.
Odyssee zwischen den Diktaturen
Dort wurde Hannan Teitel (später zu Dekel hebräisiert) 1927 in achter Generation geboren. Durch den Betrieb einer Brauerei lebte die Familie in materiellem Wohlstand. Wie Millionen Juden fanden sich die Teitels nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten in einer Zwangslage wieder. Fünf Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen flohen die Teitels aus Ostrów Mazowiecka in Richtung Sowjetunion. Infolge der stalinistischen Massendeportationen wurden die Teitels wie 300.000 bis zu zwei Millionen andere Menschen in sibirische Arbeitslager deportiert.
Dort herrschten unmenschliche Zustände, bekannt aus der breiten Literatur zum Gulag-System. Die Familie Teitel entging nur knapp dem Hungertod. Bewegung kam erst in die Situation, als Deutschland im Juni 1941 die Sowjetunion angriff. Als Reaktion nahm Moskau Beziehungen zur polnischen Exilregierung in London auf.
Deren Ministerpräsident Władysław Sikorski schaffte es, den Sowjets die Bildung einer polnischen Armee abzuringen, die den Kampf gegen Hitlerdeutschland unterstützen sollte. Zugleich wurden polnische Bürger aus Arbeitslagern und Gefängnissen entlassen – ein Hoffnungsschimmer für Hannan Teitel und seine Familie.
Mit der polnischen Armee von Usbekistan nach Iran
Zusammen mit Zehntausenden anderen schlugen sich die Teitels 4.000 Kilometer bis nach Usbekistan durch. Dort sammelte sich die polnische Exilarmee unter Führung Generals Władysław Anders. Die Hilfsbereitschaft der usbekischen Bevölkerung stand in drastischem Kontrast zur Versorgungslage. Die Geflüchteten waren ihrem Schicksal überlassen. Etliche starben an Hunger und Krankheiten.
Angesichts der unhaltbaren Zustände verfolgte Władysław Anders einen Plan, der auch für Hannan Teitel Konsequenzen hat. Der General überzeugte die Sowjetunion, die inzwischen rund 70.000 Mann zählende polnische Armee nach Iran zu verlegen – und mit ihr so viele Zivilisten wie möglich. Im Jahr zuvor war Iran von Briten und Sowjets besetzt worden. Hannans Eltern schickten ihn mit insgesamt 1.000 jüdischen Kindern, darunter seine Schwester und seine Cousine, auf den Weg.
Zwischen März und August 1942 liefen täglich Schiffe in der iranischen Hafenstadt Bandar Pahlavi (heute Bandar Anzali) am Kaspischen Meer ein. Das Rote Kreuz kümmerte sich um die ausgemergelten Ankömmlinge, bevor sie über das Land verteilt wurden, die meisten von ihnen in die Hauptstadt Teheran.
In den als Provisorium gedachten Lagern entwickelte sich eine starke Exilkultur. Dekel nennt dies in der Kapitelüberschrift treffend "Polish and Jewish Nation Building in Tehran". Schulen, Cafés, Zeitungen, sogar Kinos wurden gegründet. Bis heute zeugen polnische Gräber auf diversen iranischen Friedhöfen von dieser verwobenen Vergangenheit, etwa auf dem katholischen Friedhof Doulab oder dem jüdischen Beheshtiyeh-Friedhof im Osten Teherans.
Mithilfe der Zionistischen Weltorganisation wurden die "Tehran Children" schließlich Anfang 1943 nach Palästina geholt. Zehntausende nicht-jüdische Polen hingegen gingen ins Exil nach Ostafrika und Indien. Ihre Geschichten wurden zuletzt unter anderem von der Historikerin Julia Devlin sowie in der Dokumentation "Memory Is Our Homeland" aufbereitet.
Anschluss an andere Fluchtgeschichten
Dekel verwebt die auf Archivmaterialien, Interviews und Fachliteratur gestützten historischen Schilderungen konsequent mit Reflexionen über ihre Recherchereisen und den Entstehungsprozess des Buches. Den Aufenthalten in der väterlichen polnischen Heimat räumt sie immer wieder viel Platz ein. Das Land sei eine "vererbte Wunde", ein Trauma, über das in ihrer Familie so gut wie nie gesprochen wurde. Ihre Tante beschreibt, wie Bewohner Ostróws in Jubel ausgebrochen seien, als die Teitels ihre Brauerei zurückließen.
Auch das Verhältnis zu aktueller Geschichtspolitik wird thematisiert. Dass in Ostrów nichts auf die ausgeprägte jüdische Vergangenheit hinweist, führt sie als beispielhaft für das Unsichtbarmachen spezifisch jüdischen Leids durch die nationalistisch-katholische Erinnerungspolitik der polnischen Regierungspartei PiS an.
Es ist eine Stärke des Buches, dass Dekel diese Spezifität für alle Stationen ihres Vaters herausarbeitet und zugleich den Anschluss an andere Fluchtgeschichten sucht. Dabei schießt die Suche nach Analogien stellenweise auch über das Ziel hinaus, etwa wenn die Autorin von ihrer Lebensmittelvergiftung auf Recherche in Usbekistan zur Typhusepidemie in den 1940ern überleitet.
Die Arbeit an "Tehran Children" war für Dekel ein aufschlussreicher, aber auch ernüchternder Prozess, an dem sie den Leser teilhaben lässt. Der Wunsch nach einer Umgehung der die israelisch-iranischen Sackgasse erfüllte sich nicht. Nach relativierenden Aussagen, die typisch für ein nationalistisches iranisches Geschichtsbild sind, bricht sie die Zusammenarbeit mit Salar Abdoh ab. Dieser erkenntnisgeleitete Mut trägt letztendlich zur lohnenden Lektüre bei.
Daniel Walter
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