Vom Aussterben bedroht
Die Sprache der Kalash gilt als ernsthaft gefährdet. Sie wird nur noch von schätzungsweise 3.000 Indigenen, die in den Bergen des Hindukusch leben, gesprochen. Die Sprache ist die wichtigste Ausdrucksform des vom Aussterben bedrohten Volkes, das sich über Jahrtausende erhalten und seine reiche und einzigartige Kultur bewahrt hat.
Die Kalash haben an ihrer Religion, Identität, Lebensweise und Sprache festgehalten. Versteckt in den Bergen nahe der Grenze zu Afghanistan, feiern und tanzen die Kalash tagelang und verehren eine Reihe von Göttern. Sie lieben hausgemachten Alkohol, und Frauen wählen selbst, wen sie heiraten möchten – was im überwiegend muslimischen Pakistan eher ungewöhnlich ist.
Die Kalash haben blaue Augen und helle Haut, weshalb Anthropologen und andere Forscher rätseln, woher sie stammen. Die gängigste Vermutung ist, dass dieses einzigartige Volk griechische Wurzeln hat – Alexander der Große hatte diesen Landstrich vor gut 2.000 Jahren erobert. Es ist also durchaus möglich, dass die Kalash-Nachfahren seiner griechischen Truppen sind. Tatsächlich haben sie Symbole, Riten, eine Geschichte und möglicherweise eine DNA, die auf die alten Griechen zurückgehen. Eine andere Hypothese lautet, dass die Kalash ein indo-arischer Stamm sind, und schon sehr viel länger dort leben.
Umgeben von Muslimen, sind die Kalash die kleinste Ethnie Pakistans. Die Schätzungen schwanken, Daten der Volkszählung legen jedoch nahe, dass ihre Zahl von 10.000 in den 1950er Jahren auf heute 3.000 Angehörige geschrumpft ist.
Jenseits islamischer Glaubensprinzipien
Kultur und Lebensart der Kalash unterscheiden sich deutlich von den benachbarten muslimischen Gemeinschaften. Die Kalash feiern drei große Feste im Jahr. Dann tanzen sie zu Trommelklängen und trinken selbstgemachten Wein. Sie verehren diverse Götter und Geister und bringen ihnen zu den Festen Opfer und Gaben dar. Zu diesen Anlässen wählen die jungen Frauen und Männer zudem ihre Ehepartner aus.
Kalash-Frauen dürfen nicht nur ihren Mann selbst wählen, sondern sich auch scheiden lassen oder weglaufen. Zugleich lastet ein schwerer Aberglauben auf ihnen. Während der Menstruation etwa gelten sie als unrein. Man glaubt, dass sie der Familie Unglück bringen, wenn sie sich in dieser Zeit frei bewegen. Deshalb müssen sie während der Menstruation in Quartieren außerhalb der Dörfer wohnen. Dies ist eine der Traditionen, durch die sich die Kalash von anderen pakistanischen Ethnien unterscheiden.
Die Kalash pflegen besondere Bestattungszeremonien. Der Tod wird meist als freudiges Ereignis gefeiert, weil er als Vereinigung der Seele mit ihrem Schöpfer gesehen wird. Statt die Toten zu betrauern, werden sie mit Gesang und Trommeln verabschiedet und für ihre letzte Reise mit Nahrung versorgt. Ihr Besitz liegt während der Zeremonie neben ihnen. Nach tagelangen Ehrungen wird der Tote zu seiner letzten Ruhestätte überführt. Früher verblieben die Verstorbenen in einem offenen Sarg im Freien, später begannen die Kalash jedoch, sie zu begraben. Beisetzungen sind gute Gelegenheiten, Reichtum und Ansehen des Verstorbenen und seiner Familie zu demonstrieren. Die Männer werden mit mehr Aufwand beigesetzt.
Gewachsene Touristenattraktion
Obwohl sie verborgen in den Bergen leben, ziehen die Kalash mit ihrer beeindruckenden Kultur immer mehr Touristen an. Dabei spielt auch der Lowari-Tunnel eine Rolle: Diese 2017 offiziell eröffnete Unterführung ist zehn Kilometer lang und verbindet die Distrikte Chitral, wo die Kalash leben, mit dem Upper Dir-Distrikt. Wegen der besseren Erreichbarkeit mit dem Auto ist der lokale Tourismus gewachsen. Auch moderne Waren sind leichter erhältlich. Die Kalash haben davon jedoch wenig, denn die Geschäfte werden von Händlern anderer Ethnien getätigt.
Die Kalash werden massiv diskriminiert. So wurde etwa das Erdbeben mit Stärke 7.5, das im Jahr 2015 Nordafghanistan und Pakistan erschütterte, der "unmoralischen Art" der Kalash angelastet. Viele finden, die Kalash sollten sich assimilieren.
Tatsächlich schwinden ihre Traditionen rasant. Ein Grund ist die Konvertierung zum Islam. Dies begann schon zu Kolonialzeiten, wie Rudyard Kipling in seiner Kurzgeschichte, "Der Mann, der König sein wollte", beschreibt. Seine Geschichte spielt in Kafiristan, "dem Land der Ungläubigen", in dem Wahnsinn und Götzenanbetung allgegenwärtig sind.
In Kiplings Geschichte geht es um die "roten Kafire", die Ende des 19. Jahrhunderts brutal zur Konvertierung gezwungen und fortan "Nuristanis"– die "Erleuchteten" – genannt wurden. Wegen ihrer typischen schwarzen Kleidung wurden die Kalash, die in derselben Region ansässig waren, zu Kiplings Zeiten "schwarze Kafire" genannt. Medien berichten von erzwungenen Konvertierungen und Eheschließungen mit Nicht-Kalashs. In den letzten Jahren sind schätzungsweise um die 100 Angehörige der Kalash zum Islam übergetreten.
Die Kultur der Kalash erodiert auch von innen. Junge Leute nehmen moderne Bräuche an und wünschen sich eine Schulbildung und einen Beruf. Lakshan Bibi war die Erste aus ihrem Tal, die einen Abschluss machte – sie wurde Berufspilotin. Wazir Zada ist die erste Kalasha, die Mitglied der Provinzversammlung von Khyber Pakhtunkhwa wurde, der ehemaligen Northwest Frontier Province.
Bedrohte Kultur
Auch illegale Abholzung und Landübernahme gefährden die Kultur der Kalash. Viele Kalash geben ihre Traditionen auch wegen ihrer extremen wirtschaftlichen Marginalisierung auf, werden aber in der Mehrheitskultur nicht akzeptiert. Wenn diese Entwicklung weiter voranschreitet wie bisher, wird von ihrer Kultur nur das bleiben, was dokumentiert wurde. Daher ist es wichtig, die bisher nur mündlich überlieferten Traditionen und Bräuche festzuhalten. Ihr ganzes Wissen läuft Gefahr, verlorenzugehen.
Zivilgesellschaftliche Organisationen machen sich seit 2008 dafür stark, die Kultur der Kalash als immaterielles Weltkulturerbe auf die Liste der UNESCO zu setzen. Der Prozess ist jedoch ins Stocken geraten. Auch die pakistanische Regierung bemüht sich darum, die Kultur der Kalash zu schützen und zu erhalten. Die Behörden sehen die größte Gefahr im zunehmenden Tourismus.
Die Verfassung sichert Minderheiten gleiche Rechte zu, und der Schutz der Kultur der Kalash ist durch das Gesetz gesichert. Bisher war das hilfreich für das Weiterbestehen der jahrhundertealten Bräuche. Am Wichtigsten ist, dass einige Angehörige der Kalash fest entschlossen sind, ihre Traditionen am Leben zu halten. Diese Entschlossenheit scheint sich zu verstärken.
Mahwish Gul
© Zeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit 2019
Mahwish Gul kommt aus Islamabad und studiert Entwicklungsmanagement an der Ruhr-Universität Bochum und der University of Western Cape in Kapstadt. Ihr Master-Studiengang gehört zur Arbeitsgemeinschaft entwicklungsbezogener Postgraduierten-Programme (AGEP).