„Unsere Dokumente zeigen Assads Staatsterror“

Eine Gruppe Männer hält Plakate und die neue syrische Flagge. Plakat: "Justice Delayed is Justice Denied! The Assad regime's crimes will not be forgotten."
Gedenken an die Opfer des Giftgasangriffs 2017 in Khan Scheikhun, Syrien. (Foto: Picture Alliance / Middle East Images | H. Barakat)

Der syrische Menschenrechtler Hassan al-Hariri hat sein Leben riskiert, um Beweise für die Gräuel des Assad-Regimes zu sammeln. Ein Jahr nach Assads Sturz sieht er massive Mängel bei der Aufarbeitung.

Interview von Andrea Backhaus

Qantara: Herr al-Hariri, vor einem Jahr wurde Syriens Diktator Baschar al-Assad gestürzt. Wie geht es Ihnen an diesem Jahrestag? 

Hassan al-Hariri: Ich bin immer noch euphorisch. Wir können jetzt ohne Angst durch die Straßen gehen. Ich war nicht überrascht, als Assad gestürzt wurde. Es war offensichtlich, dass der Mann am Ende war. Er hatte so viele Chancen, sein Land besser zu führen und er hat keine einzige davon genutzt. 

Während der Diktatur mussten Sie Ihre Identität geheim halten. Jetzt geben Sie ausländischen Journalist:innen mit vollem Namen Interviews. Wie fühlt sich das an? 

Ich bin froh, dass ich jetzt offen über meine Arbeit sprechen kann. Wir Syrer:innen können Werte wie Freiheit, Würde und Meinungsfreiheit, für die wir während der Revolution auf die Straße gegangen sind, endlich leben. Wir können uns politisch engagieren. Unter dem alten Regime war das undenkbar. 

Der Menschenrechtler Hassan al-Hariri als Portrait
Menschenrechtler

Hassan al-Hariri, 59, ist Mitgründer der Kommission für Internationale Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht (CIJA). Die Organisation setzt sich dafür ein, Kriegsverbrechen zu dokumentieren und strafrechtlich zu verfolgen. Während des Krieges sammelte er mit seinem Team mehr als 1,3 Million Dokumente des Assad-Regimes.

Sie haben während des Krieges mit ihrem Team mehr als eine Million Dokumente gesammelt, die die Verbrechen von Assad und seinen Funktionären belegen. Dafür haben Sie Ihr Leben riskiert. Was hat Sie dazu bewegt?

Ich war schon immer kritisch gegenüber den Assads, sowohl gegenüber Hafez als auch gegenüber seinem Sohn Baschar. Beide unterdrückten ihr Volk. In so einem Überwachungsstaat offen Kritik zu üben war unmöglich. Ich lebte deswegen einige Jahre in Kuweit. Als 2011 die Revolution begann, kehrte ich sofort nach Syrien zurück. Ich ging auf Beerdigungen von Menschen, die bei den friedlichen Protesten durch die Kugeln des Regimes getötet worden waren. Viele von ihnen kannte ich persönlich. Mir war schnell klar, dass wir alles dokumentieren müssen, um die Verbrechen später belegen zu können. 

Wann haben Sie angefangen, Beweise zu sammeln?

In dem Moment, als die Revolution in einen bewaffneten Konflikt umschlug. Das Regime ging immer brutaler gegen die Demonstrant:innen vor. Dann desertierten junge Männer aus der Armee, gründeten die Freie Syrische Armee und kämpften gegen das Regime. Ende 2012 konnten die Oppositionskräfte erste Gebiete einnehmen.

Ich habe im gleichen Jahr CIJA mitgegründet und ein syrisches Ermittlerteam zusammengestellt. Wir waren 17 Frauen und Männer. Wir bildeten uns weiter, lernten etwa, wie man richtig Beweise sichert. Es war uns wichtig, noch während des Krieges mit der Arbeit zu beginnen. Wir wollten verhindern, dass wichtiges Beweismaterial verlorengeht. 

Wo haben Sie die Dokumente gefunden? 

Wir fanden sie vor allem in Gebieten, in denen die Rebellen die Kontrolle übernommen hatten. Dort durchforsteten wir die verlassenen Gebäude des Regimes, des Militärs, der Sicherheitskräfte und Geheimdienste. 

Wir teilten die Dokumente dann auf und versteckten sie an verschiedenen Orten. Es wäre zu riskant gewesen, sie in nur einem Versteck aufzubewahren. Wären dort Gefechte ausgebrochen, wären alle auf einen Schlag verloren gewesen. Wir brachten die Stapel in abgelegene Gebiete und übergaben einige an Beduinen, die in Zelten lebten. Wir waren sicher, das Regime würde dort nicht danach suchen.

Wie haben Sie die Dokumente an den Checkpoints des Regimes vorbeigeschleust?  

Wir mussten uns immer etwas Neues einfallen lassen. Manchmal schlossen wir uns einem Trauerzug an und mischten uns unter die schwarz gekleideten Menschen, weil die nicht angehalten wurden. Oder wir täuschten einen Umzug vor und klebten die Dokumente im Transporter unter die Möbel. Irgendwann dachten wir, es wäre besser, die Unterlagen aus Syrien rauszubringen.

Wie haben Sie das gemacht? 

Darüber kann ich vielleicht in ein paar Jahren sprechen. Was ich sagen kann: Es war sehr gefährlich und viele Menschen innerhalb und außerhalb Syriens waren daran beteiligt. Die Dokumente wurden dann von Mitarbeiter:innen in Europa aufbewahrt und ausgewertet. 

Was zeigen die Dokumente? 

Sie zeigen, wie Assads Staatsterror organisiert war. Das Regime war sehr bürokratisch und dokumentierte alles bis ins Kleinste. Darin ähnelte es dem der Nazis. Die Dokumente geben Aufschluss darüber, wie das Regime konkret gegen die Demonstrant:innen und die Opposition vorging. Ganze Befehlsketten lassen sich daraus ableiten. 

Die sogenannten Sicherheitskomitees, die die Geheimdienste und Sicherheitsapparate koordinierten, waren hierarchisch strukturiert. Über diese Hierarchie – und das ist entscheidend – erteilte Baschar al-Assad persönlich Anweisungen. Er hat nicht eigenhändig getötet. Doch selbst der einfache Soldat hätte nicht ohne den Befehl des Präsidenten oder seiner Funktionäre geschossen.

Ihre Dokumente haben schon vor Assads Sturz dazu beigetragen, dass Regimefunktionäre verurteilt werden konnten, etwa in Deutschland und Schweden. Dort dürfen die Gerichte Kriegsverbrechen verfolgen, unabhängig davon, wo und von wem sie begangen wurden. Spektakulär war der Fall von Anwar Raslan, der als Vernehmungschef in Damaskus unter anderem für die Folter von Tausenden Menschen verantwortlich war und 2022 vom Oberlandesgericht Koblenz zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. 

Nach der Verhaftung Raslans wurden wir von den deutschen Strafverfolgungsbehörden kontaktiert. Sie wollten wissen, ob wir Informationen über Raslan hätten. Wir stellten ihnen dutzende Dokumente zur Verfügung, darunter Verhörprotokolle und Aussagen einstiger Mitarbeiter seiner Abteilung.

Unsere Dokumente spielten bei vielen Verfahren in Europa eine entscheidende Rolle, in einigen Fällen waren wir auch als Sachverständige geladen. Wir konnten belegen, dass eine bestimmte Person dabei war, wenn jemand gefoltert oder getötet wurde, oder zu der Zeit in einer Position war, die es ihr ermöglichte, diese Verbrechen anzuordnen. Die Leute konnten sich nicht rausreden, sie hätten davon nichts gewusst.

Die Öffentlichkeit wusste damals nicht, was Ihr Team geleistet hatte. Hat Sie das gestört?

Nein. Einige meiner Kolleg:innen beschwerten sich manchmal, dass sie für ihren lebensgefährlichen Einsatz keine Anerkennung erhielten. Ich wollte nur, dass unsere Arbeit etwas bewirkt. Jetzt ist Assad weg und es muss darum gehen, demokratische Strukturen aufzubauen. Dazu gehört eine Rechtsprechung, die auf internationalen Standards beruht, damit sich solche Gräueltaten nicht wiederholen. 

Dafür braucht es auch eine umfangreiche Aufarbeitung der Verbrechen des Regimes. Inwieweit können Ihre Unterlagen dazu beitragen? 

Unser Archiv gehört jetzt dem syrischen Volk. Es umfasst mehr als 1,3 Millionen Dokumente und Befragungen von fast 6.000 Zeug:innen. Wir haben es digitalisiert und analysiert, damit es für künftige Gerichtsverfahren genutzt werden kann. 

Nach Assads Sturz haben wir Kontakt zur neuen Regierung aufgenommen und Vertreter verschiedener Ministerien getroffen. Sie waren anfangs überrascht und sagten, sie hätten noch nie etwas von uns gehört. Wir erklärten ihnen, dass wir unsere Arbeit aus Sicherheitsgründen geheimhalten mussten. Vor allem der Justizminister, Mazhar al-Wais, hat großes Interesse an unserem Archiv.

Präsident Ahmed al-Scharaa hat zu Beginn seiner Amtszeit versprochen, die Übergangsjustiz zur Priorität zu machen. Sehen Sie schon Fortschritte? 

Al-Scharaa hat in den vergangenen zwölf Monaten wichtige Prozesse angestoßen. Er hat Syrien auf die internationale Bühne zurückgeholt. Er hat ein Kabinett gebildet und Parlamentswahlen abgehalten. Und er hat zwei wichtige neue Institutionen geschaffen, mit denen wir eng zusammenarbeiten wollen: Die Kommission für Übergangsjustiz, die die Verbrechen des Regimes juristisch aufarbeiten wird, und die Kommission für die Vermissten, die die vielen Fälle des Verschwindenlassens aufklären soll.

Das sind richtige Schritte, aber die Herausforderungen sind gewaltig. Alles braucht viel Zeit. Gerade wird das Gesetz zur Übergangsjustiz ausgearbeitet. Bis Ende Dezember sollte das neue Parlament seine erste Sitzung abgehalten und über das Gesetz abgestimmt haben. Dann erst können die Gerichtsprozesse beginnen.

Viele Syrer:innen sind frustriert. Sie haben das Gefühl, der Kampf um Gerechtigkeit geht zu langsam voran. Sie fürchten, viele einstige Funktionäre könnten mit ihren Verbrechen davonkommen. Verstehen Sie ihre Sorge?

Ja, absolut. Bislang wurden nur einige wenige hochrangige Funktionäre aus dem Regimeumfeld verhaftet, darunter der einstige Innenminister Mohammad al-Schaar und der Leiter des Luftwaffengeheimdienstes, Ibrahim Huweidscha. Ein Untersuchungsrichter und ein Staatsanwalt arbeiten bereits an den Verfahren gegen diese Männer. 

Wir wurden gefragt, ob wir die Behörden bei diesen und anderen Fällen unterstützen können. Wir würden ihnen gerne unsere Dokumente aushändigen, aber es gibt keine Datenbank, in die wir sie übertragen könnten. Den syrischen Ermittlern und Justizbeamten mangelt es massiv an Ausstattung und Kapazitäten. Es gibt zwar internationale Unterstützung für Projekte, die den Dialog der Zivilgesellschaft fördern, aber nur sehr wenig konkrete Hilfe für die Institutionen, die die Übergangsjustiz durchführen sollen. 

Was braucht es, um die Aufarbeitung voranzutreiben?

Es braucht dringend mehr Ressourcen: Geld, Mitarbeiter:innen und internationale Expertise. 

Die Kommission für Übergangsjustiz hat elf Mitglieder, sie bräuchte Tausende, um etwas zu bewirken. Es geht um die Taten eines Regimes, das 54 Jahre an der Macht war und 13 Jahre lang Krieg gegen sein Volk geführt hat. Die Verbrechen haben ein unvorstellbares Ausmaß.

Immer wieder kommt es zu Gewalt zwischen Gegnern und Unterstützern Assads, gezielte Tötungen sind an der Tagesordnung. Tut al-Scharaa genug, um das Land zu versöhnen?

In Syrien gibt es viele ethnische und religiöse Gruppen. Assad hat sie gegeneinander ausgespielt, um seine Macht zu festigen. Es wird Jahre dauern, diese Gräben zu überwinden. Die Regierung nimmt das Problem der Selbstjustiz sehr ernst. Die Behörden wollen unter anderem eine Stelle für anonyme Beschwerden einrichten, weil viele Menschen sich nicht trauen, Übergriffe zu melden. 

Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Bedürfnisse aller Syrer:innen berücksichtigt. Und eine starke Zivilgesellschaft, die den politischen Prozess überwacht. Unter Assad herrschte der Irrglaube, der Staat regele alles. Aber in einem jungen Staat mit begrenzten Ressourcen müssen sich alle engagieren. 

Die syrische Regierung hat einen Haftbefehl gegen Assad erlassen. Der schwelgt im russischen Exil im Luxus. Denken Sie, er wird eines Tages zur Verantwortung gezogen?

Das ist eine politische Angelegenheit. Al-Scharaa hat kürzlich mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin über die Möglichkeit einer Auslieferung von Assad gesprochen. Wenn den Russen Garantien gegeben werden, dass ihre Interessen in Syrien gewahrt bleiben, halte ich das für möglich. Für die Syrer:innen wäre es wichtig, Assad vor einem syrischen Gericht zu sehen. Vielleicht wird er aber auch vorher umgebracht. Ausschließen kann man das nicht. 

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