Afghanische Literatur gegen die Verzweiflung
In Kriegs- und Krisengebieten, aber auch in repressiven Staaten ist die Situation von Autorinnen und Autoren meist katastrophal. Denn das freie Wort kommt stets zuerst unter die Räder, Bücher und Publikationen werden zensiert oder gleich ganz verboten, Schriftsteller verfolgt, ins Exil gedrängt, inhaftiert oder ermordet. Literatur gehört zu den wesentlichen Fundamenten von Demokratie und Freiheit – niemand hat das bislang besser verstanden als die Despoten dieser Welt.
Menschenrechte und Demokratie verdanken sich auch der Literatur und Philosophie. Politisch konnten sie sich meist erst viel später durchsetzen. Weil das bis heute so ist und Literatur ebenso wie andere Künste ein Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen ist, bleibt sie für Despoten so gefährlich.
Umso wichtiger sind internationale Kulturprojekte wie das im Jahr 2017 von der Autorin Annika Reich gegründete Projekt "Weiter Schreiben“, das Autorinnen und Autoren aus solchen Ländern mit der hiesigen Literaturszene vernetzt und ihnen ermöglichen will weiter literarisch tätig zu sein und zu publizieren.
Schreiben als Therapie
In Kooperation mit Initiativen wie "Untold“ und der Universität Bern gelang ein intensiver Austausch mit Autorinnen aus Afghanistan, die, so geht es aus dem im April 2022 erschienenen Projektmagazin hervor, gerade in der kritischen und insbesondere für Frauen furchtbaren Lage seit Sommer 2021 sagten: Gerade jetzt müssen wir weiterschreiben, dem Terror der Taliban die Literatur entgegenhalten.
"Das Schreiben in der Gruppe wurde wie eine Art Therapie für uns“, sagt die Autorin mit dem Pseudonym Batool über eine Messenger-Gruppe, in der sich die Autorinnen mit den Initiatorinnen des Programms austauschen. "Es ist existenziell wichtig für uns, gehört zu werden und diesen geschützten Raum zur Verfügung zu haben.“
Im Magazin und später bei Lesungen in Deutschland wurden Kurzgeschichten und Gedichte präsentiert, die sich auch, aber keineswegs nur, mit der Lage der Frauen im Afghanistan von heute befassen. Was viele der Texte auf den ersten Blick gemeinsam haben, ist eine sehr klare, am Faktischen orientierte Sprache, die direkt und offen ist.
Sie steht damit ganz im Gegensatz zu Texten, die nicht mit dieser Sicherheit einer freien Publikation verfasst wurden. Solche Texte arbeiten häufig stärker mit Metaphern und verklausulierten Formulierungen, wie man sie sonst aus Afghanistan oder auch anderen Ländern gewohnt ist, in denen eine rigide Zensur herrscht. "Im öffentlichen Diskurs wird oft über Menschen aus Krisengebieten gesprochen, hier ergreifen sie selbst das Wort“, sagt Annika Reich über "Weiter Schreiben“, und das sei ein wesentlicher Aspekt des Projekts.
Im Schweizer Exil
Zu den unterstützten Autoren gehört der 1986 in Afghanistan geborene Schriftsteller und bildende Künstler Hussein Mohammadi. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er im Iran, wo er immer wieder Probleme mit der Zensur hatte. Es dürfte für ihn auch sonst nicht einfach gewesen sein, denn Afghanen sind im Iran regelmäßig Ausgrenzung und Repressionen ausgesetzt, außerdem gibt es vielerorts einen tiefsitzenden anti-afghanischen Rassismus, der mitunter auch von staatlichen Stellen befeuert wird.
2013 schließlich flüchtete Mohammadi in die Schweiz, wo er bis heute lebt. Dort scheint er nun angekommen zu sein, zumindest was seine künstlerische Arbeit angeht: Er wirkte als Schauspieler am Experi Theater Zürich, stellte seine Bilder aus, schrieb ein Märchen für den Schweizer Rundfunk. Nun liegt der erste seiner bislang drei Romane in der Übersetzung von Sarah Rauchfuß auf Deutsch vor.
"Scheherazades Erben“ (Edition Bücherlese, Luzern 2022) ist eine beeindruckende Novelle über Afghanistan vor der erneuten Machtergreifung der Taliban, ein so sensibles wie vielschichtiges Buch über das Land und seine Menschen ebenso wie über die Politik, zu deren Spielball beide immer wieder werden.
Der Roman beginnt mit den Brüdern Eshagh und Ahmad, die mit dem Auto von ihrem kleinen Dorf nach Kabul fahren. Ahmad war noch nie in der Hauptstadt, bei Eshagh ist es lange her, und damals war er ein Talib; vielleicht ist er es noch immer. Auf jeden Fall ist er ein Fundamentalist, einer, der sein radikales Islamverständnis um jeden Preis durchsetzen will.
Sein Sohn Nabi kommt ganz nach ihm: Er ist ein gewalttätiger Choleriker, vor dem sich vor allem die Frauen im Dorf fürchten. Ausgerechnet er will Ahmads Tochter Masomah heiraten.
Doch Masomah hält wenig von den traditionellen Rollenvorstellungen, wonach Frauen hinter dem Herd bleiben und sich auf der Straße unter der Burka verstecken sollen, und ihre Haltung hat sie ihrem Vater Ahmad zu verdanken.
Er hat ihr Lesen und Schreiben beigebracht und sie mit Literatur versorgt. Er hat sie gelehrt, Dogmen zu hinterfragen und Gott als eine Instanz der Güte zu verstehen, die es verachtet, wenn in ihrem Namen Gewalt ausgeübt wird. Dass Ahmad mit seiner liberalen Einstellung überhaupt überleben konnte, hat er Eshagh zu verdanken, der mehr als einmal verhindert hat, dass ihn die Taliban holen.
Doch nun ist Masomah zusammen mit ihrem Freund vor der Heirat mit Nabi nach Kabul geflüchtet und von dort wollen sie weiter in den Iran. Eshagh kann das nicht dulden. Er sieht seine Familienehre verletzt und will beide töten, und natürlich erwartet er, dass Ahmad und ihm dabei hilft.
Von dieser Kernerzählung aus wechselt Mohammadi zu anderen Menschen und ihren Geschichten, sobald deren Lebenswege sich mit der Erzählung der Hauptprotagonisten kreuzen. Zuerst geht es um den Polizisten Zabih, den Eshagh aus seinen Zeiten als Taliban kennt, der aber selbst der Ideologie längst abgeschworen hat.
Figuren voller Widersprüche
Die Extremisten hatten ihn als Kind entführt und gezwungen, für sie zu kämpfen. Doch als er eine wehrlose Familie ermorden soll, wirft er das Gewehr weg und kann flüchten.
Er ist froh, in Kabul zu sein, wo das Leben freier ist und sich Frauen auch ohne Vollverschleierung auf die Straße trauen. Zabih liebt seine Frau und seine Kinder und er nimmt seinen Job ernst – mit Einschränkungen. Kleinere Vergehen verfolgt er nicht, wenn er sich dafür bezahlen lassen kann, und sei es mit einer Packung Zigaretten.
Es sind ambivalente Figuren, die Hussein Mohammadi zeichnet. Man hadert beim Lesen mit ihnen allen. Im einen Moment kann man ihre Beweggründe gut verstehen, im nächsten ist man entsetzt. Er beschreibt echte Menschen, voller Widersprüche, weit mehr als bloße literarische Charaktere zwischen Buchseiten.
Mit atemberaubender Leichtigkeit gelingt es Mohammadi, den Leser nicht nur in die Leben dieser so unterschiedlichen Menschen eintauchen zu lassen, sondern er zeichnet ganz nebenbei noch ein komplexes aber stets greifbares Bild eines immer wieder vom Krieg erschütterten, zutiefst gespaltenen Landes und seiner jüngsten Geschichte.
Mohammadi versucht nachzuvollziehen, warum die Dinge sind, wie sie sind: "Die Überzeugung, durch religiöse und ethnische Zugehörigkeit voneinander getrennt zu sein, reichte bis in das Innerste der Menschen hinein und durchzog es, wie Kett- und Schussfäden einen gewebten Stoff durchziehen. Später gaben die Erwachsenen diese Art zu denken an ihre Kinder weiter. Kaum vorstellbar, wie sie sich jemals wieder ändern sollte.“
Als Eshagh dem Polizisten Zabih in einem Kabuler Restaurant einen Vortrag darüber hält, wie die "westliche Kultur“ alles zerstöre, muss der Autor Ahmads Gedanken dazu nicht niederschreiben. Ahmads Schweigen genügt, denn man weiß, was er über seinen Bruder denkt und was er für das eigentliche Problem Afghanistans hält.
Die Eleganz, mit der Mohammadi seine Geschichte webt, wie er am Ende der kurzen Novelle alle Lebensfäden, die zuvor kurz gestreift wurden, wieder aufgreift und zusammenführt, wie er mit knappen, klaren Strichen seine Figuren zeichnet, sucht ihresgleichen – und man muss betonen, dass dieser Roman seinen ersten längeren Prosatext darstellt. Denn das vergisst man beim Lesen leicht, so vollendet ist dieses Buch in jeder Hinsicht. Es ist große Literatur, es ist Weltliteratur im eigentlichen Sinne.
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