Raschīd Ridā und der "Laissez-faire-Salafismus"
Im heutigen medialen Sprachgebrauch sind mit dem Begriff Fatwa meist negative Konnotationen und reaktionäre Vorstellungen verbunden. Fatwa ist als Schlagwort schnell zur Hand bei sensationsheischenden Meldungen zu Morddrohungen, Erlassen gegen Bücher oder Kunstwerke oder anderen diktatorischen Anordnungen, die blinden Gehorsam verlangen.
Angesichts derart vieler negativer Assoziationen ist es schwierig geworden, die Fatwa mit positiven, aufklärerischen Entwicklungen zu verbinden, geschweige denn, sie als Instrument zur Anpassung oder als Mittel für sozioökonomische Reformen zu verstehen.
Dabei spielen Fatwas (frei übersetzt als "Rechtsgutachten der Gelehrten") in der gesamten islamischen Geschichte eine wichtige Rolle in der geistigen Anleitung der muslimischen Gemeinden. Sie waren weit davon entfernt, Instrumente der Unterdrückung oder Drohung zu sein, mit denen ein starrer ideologischer Überbau durchgesetzt werden sollte. Vielmehr halfen Fatwas muslimischen Gemeinschaften dabei, ihren Glauben in Einklang zu bringen mit der sozioökonomischen Dynamik der Welt, in der sie lebten.
Mit anderen Worten: Fatwas waren keine Anordnungen reaktionärer Schriftgelehrter, die damit der Gesellschaft ihre Vorstellungen aufzwingen wollten, sondern sie dienten als Mittel zur Anpassung an Fortschritt und Erneuerung. Sie halfen Muslimen, sich zu orientieren und sich den neuen Lebensrealitäten anzupassen, ohne mit religiösen Traditionen zu brechen.
Mittel der zivilisatorischen Entwicklung
An allen kritischen Wendepunkten in der Entwicklung der islamischen Gesellschaft lässt sich beobachten, dass Gelehrte zur Förderung der zivilisatorischen Entwicklung aufgeklärte Meinungen äußern – und damit Zweifel in der Gesellschaft ausräumen. Ein kursorischer Blick auf den Ursprung und die Entwicklung der islamischen Rechtsprechung mit ihren zahlreichen Strömungen verdeutlicht uns die Rolle der Fatwa bei der Verschiebung der Grenzen der Religionslehre und der Förderung einer sozialen Dynamik.
In seinem Werk Modern Things on Trial: Islam's Global and Material Reformation in the Age of Ridā, 1865–1935 (dt. Waren der Moderne vor dem religiösen Gesetz des Islam: Die materielle Reformation zur Zeit von Ridā) untersucht Leor Halevi den Einfluss der Fatwas des Schriftgelehrten Muhammad Raschīd Ridā auf den sogenannten "Laissez-faire-Salafismus" an der Wende zum 20. Jahrhundert.
Ridā, ein einflussreicher, aber umstrittener islamischer Reformer, veröffentlichte in seiner Zeitschrift Al-Manār (dt. Der Leuchtturm) von 1903 bis zu seinem Tod 1935 eine Vielzahl eigener Fatwas.
In 32 Jahren gab er etwa 1.060 Fatwas heraus, die posthum zu einem sechsbändigen Kompendium zusammengestellt wurden. Ein großer Teil dieser Rechtsgutachten – die keine Rechtsverbindlichkeit besaßen – entstand als Antwort auf Fragen seiner Leser aus allen Teilen der islamischen Welt. Sie richteten sich damit an eine globale und grenzüberschreitende Gemeinschaft von Muslimen.
Ridā wurde im damaligen Großsyrien geboren und erhielt bereits in früher Jugend eine für seine Zeit moderne Bildung. Mit der Veröffentlichung seiner Rechtsgutachten in einer eigenen Zeitschrift verfolgte er seine Vision eines reformierten und aufgeschlossenen Islam.
Inspiriert von den Errungenschaften der Moderne
Halevi zählt Ridā zu den islamischen Gelehrten, die "ad-hoc-Fatwas" verfassten, mit denen sie Muslime ermutigten, sich den technischen Neuerungen und der Moderne zu öffnen, solange diese nicht mit dem Ethos und den Grundwerten des islamischen Glaubens kollidierten.
In seinen pragmatischen Rechtsgutachten nutzte Ridā "sein juristisches Handwerkszeug" dazu, das islamische Recht mit den veränderten Umständen in Einklang zu bringen. So löste er das Spannungsfeld zwischen kommerziellen und religiös motivierten Zielen auf.
Mit seinen Dekreten bewegte sich Ridā auf einem schmalen Grat zwischen dem Gesetzeskonformen und Verbotenen: Viele Fragen seiner Leser drehten sich um brennende religiöse Fragen der damaligen Zeit zu neuen Produkten, Technologien und Geschäften.
Dies betraf einerseits die Übernahme europäischer und amerikanischer Technologien durch Muslime, die Verwendung moderner Gebrauchsgegenstände wie Toilettenpapier, Banknoten, Schallplatten, Krawatten, Hüten und geschneiderten Hosen, aber auch die Nutzung neuer geschäftlicher Möglichkeiten. Mit seinen Fatwas widerlegte Ridā die verbreitete Vorstellung, der Islam behindere den Handel, und förderte die Auslegung des Islam als eine pragmatische Religion, die den freien Handel begünstigt.
"Die in Al-Manār veröffentlichten Rechtsgutachten und Leseranfragen sind nicht als Rückzug der Scharia im Zeitalter der europäischen Dominanz oder des wachsenden Säkularismus zu verstehen. Sie spiegelten vielmehr den Einzug der Scharia in neue Bereiche von religiösem Interesse wider", schreibt Halevi.
In einem seiner umstrittenen Rechtsgutachten gestattete Ridā den Gläubigen die Verwendung von Toilettenpapier mit dem Hinweis, der Islam lege ihnen nur sinnvolle, angemessene Verpflichtungen auf.
Mit seinen Fatwas vertrat Ridā kapitalismusfreundliche und marktoffene Positionen. Er zielte damit auf eine Art "Laissez-faire-Islam", der – so Halevi – "im perfekten Einklang stand mit der modernen europäischen Zivilisation, mit fast all ihren technologischen Neuerungen und vielen ihrer Annehmlichkeiten, darunter auch Toilettenpapier."
Fatwas von unten
Er verweist allerdings darauf, dass die Rechtsgutachten Ridās nicht als Dekrete zu verstehen seien, die von oben nach unten erteilt wurden oder von einem charismatischen Gelehrten stammten, der den Massen Reformen diktieren wollte.
Halevi stellt diese gängige Darstellung mit seiner These infrage: Die Reformen ergaben sich seiner Meinung nach aus den gezielten Fragen der Muslime, die wissen wollten, ob ihre Religion es billige, neue, aus dem Westen importierte Waren zu kaufen, von den Westlern eingeführte neue Methoden zu praktizieren und mit den Fremden im Alltag zu verkehren.
"Die in Al-Manār veröffentlichten Fatwas kamen von unten. Sie beantworteten die Fragen der Gläubigen und gaben religiöse Orientierung im Alltag", schreibt Halevi. Jemand, der beispielsweise ein Grammophon kaufen wollte, um Koran-Aufnahmen abzuspielen, aber nicht sicher war, ob dies nach dem religiösen Gesetz zulässig war, wandte sich zur Lösung dieser Frage an einen Gelehrten.
Halevi behauptet, Ridās Spielart des Salafismus sei aus diesen materiellen Fragen hervorgegangen, mit denen Bürger auf den Straßen und Plätzen tagtäglich konfrontiert gewesen seien. Gelehrte wie Ridā, die die heiligen Schriften kannten und die Funktionsweise der freien Märkte besser verstanden, füllten dieses Vakuum einfach aus.
"Am Anfang waren allerdings die materiellen Dinge; ihr folgten die religiösen Debatten unter Laien; am Ende stand das Rechtsgutachten des Reformators. Diese Reihenfolge ist wichtig, wenn wir die Ursachenkette verstehen wollen, die in diesem Fall zum Urteil über einen Gegenstand der Moderne vor dem religiösen Gesetz führte", so Halevi.
Weder wahhabitischer Eiferer noch utilitaristischer Missionar
Halevis Darstellungen widersprechen vielen verkürzenden Lesarten zu Ridā. Diese sehen ihn entweder als wahhabitischen Eiferer, der die reformerischen Ziele seines Lehrers Muhammad Abdu verriet, oder als utilitaristischen Missionar, der gegen die Grundlagen des Islam verstieß. Das Buch porträtiert Ridā als eine komplexe Persönlichkeit, die ein bewegtes Leben in ständiger Reflexion führte.
Ridā vertrat zwar bestimmte Vorstellungen des muslimischen Gelehrten Ibn Taimiya aus dem 13. Jahrhundert, der die salafistische Bewegung stark inspirierte, aber er vertrat auch Gedanken von Mahatma Gandhi und Martin Luther. So war er der erste, der 1921 die arabische Übersetzung von Gandhis Buch Wegweiser zur Gesundheit veröffentlichte.
Ridās Rechtsgutachten konnten jedoch nur eine begrenzte Wirkung entfalten, da er im Gegensatz zu seinem Lehrer Muhammad Abdu weder in Kairo noch irgendwo sonst in der muslimischen Welt eine eigene Gerichtsbarkeit innehatte. Ohne Vollzugsgewalt blieben seine Fatwas lediglich Meinungen oder Auslegungen, die von Richtern, Machthabern oder Privatpersonen nach eigenem Ermessen befolgt oder verworfen werden konnten.
Muhammed Wafy Nafih
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Aus dem Englischen von Peter Lammers