Wunden, die an der Seele zerren: Fünf einflussreiche Romane
Jedes der hier aufgeführten Bücher spielt eine wichtige Rolle in dem kulturellen, sozialen und politischen Wandel, den der Iran im letzten Jahrhundert durchlaufen hat.
Die blinde Eule
Sadegh Hedayat und sein Meisterwerk Die blinde Eule (Goethe & Hafis Verlag 2017) finden in iranischen Schulbüchern keine Erwähnung. Doch Hedayats Vermächtnis ist größer als alle Verbote, die sämtliche Regierungen vor und nach der islamischen Revolution über sein Werk verhängt haben.
Die blinde Eule handelt von einem namenlosen Maler, der von seinen Albträumen, seinem Schmerz, seiner Liebe und dem tiefen Hass auf das Leben außerhalb der Enge seines Zimmers spricht.
Diese surrealistische Geschichte gilt als erstes Werk der modernen iranischen Literatur. Hedayat schrieb den Roman bereits 1930. Wegen seiner antimonarchistischen Haltung wurde er allerdings von Reza Schah Pahlavi, dem damaligen Schah von Persien, mit einem Schreib- und Publikationsverbot belegt. Als sich Hedayat sechs Jahre später in Mumbai aufhielt, veröffentlichte er dort eine limitierte Auflage von 50 Exemplaren. Nach der Abdankung Reza Schah Pahlavis im Jahr 1941 erschien der Roman auch im Iran.
Sadegh Hedayat nahm sich 1951 in Paris das Leben. Der Suizid verstärkt noch die geheimnisvolle Aura des Romans. Sein Eröffnungssatz hat für viele Iraner eine ähnliche Bedeutung wie Hamlets „Sein oder Nichtsein“. Er lautet: „Es gibt im Leben Wunden, die wie die Lepra langsam in der Einsamkeit an der Seele zehren.“
Mein Onkel Napoleon
Mein Onkel Napoleon (deutsch erschienenen bei Blanvalet 2001) bildet mit seinem besonderen Humor einen markanten Kontrast zur düsteren Stimmung von Die blinde Eule, ist aber nicht weniger bekannt. Iraj Pezeshkzad veröffentlichte sein Buch 1973 und landete damit über Nacht einen Bestseller. Drei Jahre später erschien auf der Grundlage des Romans eine kleine Fernsehserie, die den Bekanntheitsgrad des Buches weiter steigerte.
Seit der iranischen Revolution 1979 ist Mein Onkel Napoleon verboten. Dennoch verkaufen praktisch alle Straßenbuchhändler im Iran schwarz gedruckte Ausgaben.
Mein Onkel Napoleon dreht sich um eine Liebesgeschichte im Iran der 1940er Jahre. Der im Buch nicht genannte Hauptprotagonist, der in der Fernsehserie Saeed heißt, erzählt von seiner Liebe zu Leily, der Tochter von „Onkel Napoleon“. Dieser Onkel ist ein paranoider pensionierter Offizier, der Napoleon Bonaparte bewundert und die Briten hasst.
Mit dieser einfachen Geschichte macht sich Pezeshkzad humorvoll über die patriarchale Gesellschaft des Iran, über religiöse Traditionen und die Rolle ausländischer Mächte in der iranischen Innenpolitik lustig. Einige Figuren und Redensarten aus dem Buch sind im Iran sehr populär. Selbst diejenigen, die das Buch nicht gelesen oder die Fernsehserie nicht gesehen haben, verwenden diese Phrasen täglich.
„Das ist das Werk der Briten“ ist der wohl bekannteste Spruch aus dem Buch. Iraner verwenden ihn häufig, um die Schuld an jeder Katastrophe sarkastisch den Briten zuzuschreiben. Eine abgewandelte Fassung dieses Satzes benutzt der ehemalige britische Außenminister Jack Straw im Titel seines 2019 erschienenen Buches The English Job: Understanding Iran and Why It Distrusts Britain.
Der kleine schwarze Fisch
Der kleine schwarze Fisch (1966; deutsch erschienen im Zambon Verlag 1987) ist das wohl bekannteste iranische Kinderbuch. Es stammt aus der Feder des Schriftstellers und Grundschullehrers Samad Behrangi. Der international bekannte iranische Künstler und Grafiker Farshid Mesghali illustrierte das Buch. Mesghali erhielt dafür 1969 auf der Kinderbuchmesse in Bologna und auf der Biennale der Illustrationen in Bratislava höchste Auszeichnungen.
Trotz dieses internationalen Erfolgs stand das Werk lange Zeit wegen seiner versteckten politischen Botschaften im Iran auf der schwarzen Liste.
Die Hauptfigur des Kinderbuchs ist ein schwarzer Fisch, der sich nicht damit abfinden will, dass sich die Welt auf den kleinen Fluss beschränkt, in dem er mit seiner Familie lebt. Trotz eindringlicher Warnungen der Älteren beschließt der kleine Fisch, bis zum Ende des Flusses ins Meer zu schwimmen. Als er schließlich das Meer erreicht, schließt er sich einem Schwarm von Fischen an, die gegen einen bösen Pelikan kämpfen.
Behrangi schrieb das Buch zur Zeit der linken Guerillabewegung gegen das totalitäre Schah-Regime. Seine Nähe zu Mitgliedern der Bewegung machte das Werk zum inoffiziellen Manifest der iranischen Volksfedajin-Guerilla.
Seit der Erstveröffentlichung ist die Figur des kleinen schwarzen Fisches Teil der öffentlichen Kultur des Iran und fester Bestandteil des Wortschatzes von Aktivisten. In den letzten zehn Jahren taucht die ursprüngliche Illustration des kleinen schwarzen Fisches wieder vermehrt in der iranischen Gesellschaft auf und wird als Motiv gerne für Ohrringe und Armbänder verwendet. Bei jungen Iranern ist es auch als Tattoo beliebt.
Die verbrannte Erde
In der amtlichen Geschichtsschreibung der Islamischen Republik wird der iranisch-irakische Krieg (1980-88) als „Heilige Verteidigung“ bezeichnet. Im Iran müssen Bücher und Filme über den Krieg dieser amtlichen Einordnung folgen. Insofern ist der 1982 erschienene Roman The Scorched Earth (Die verbrannte Erde; nicht ins Deutsche übersetzt) von Ahmad Mahmoud eine Ausnahmeerscheinung.
Der Antikriegsroman handelt von den ersten drei Monaten des Krieges in einem Armenviertel der Provinzhauptstadt Ahvaz im Südwesten des Irans. Mahmoud selbst kam in dieser Stadt zur Welt. Sein Bruder war eines der vielen Opfer des Krieges.
In seinem Werk erzählt der Autor wirklichkeitsnah von den Opfern der Bewohner bei der Verteidigung ihrer Stadt, von der Gier der Händler und Mittelsmänner, die vom Elend der Armen profitieren, und von der Gleichgültigkeit der Bewohner anderer Städte gegenüber der Not der Unglücklichen in den Kriegsgebieten.
Das wohl bekannteste Kapitel des Buches handelt davon, wie Bewohner des Viertels zwei Diebe festhalten, die in die Häuser von Geflohenen eingebrochen sind. Die bewaffneten Bürger streiten darüber, ob sie die Diebe der Polizei ausliefern oder eigenmächtig hinrichten sollen.
Die Leoparden, die mit mir liefen
Vor Veröffentlichung seines Kurzgeschichtenbands The Leopards Who Have Run with Me (dt. Die Leoparden, die mit mir liefen; nicht ins Deutsche übersetzt) war Bijan Najdi ein wenig bekannter Mathematikdozent in der kleinen Stadt Lahijan im Norden Irans. Selbst dieses Werk machte ihn nicht auf Anhieb bekannt. The Leopards Who Have Run with Me ist eine Sammlung von insgesamt zehn Kurzgeschichten und die erste Veröffentlichung des Autors. Es erschien 1994. Nur drei Jahre später starb Najdi an Lungenkrebs.
Erst nach seinem Tod wurde er im Iran bekannt. Es dauerte einige Jahre, ehe die Menschen dieses Buch schätzen lernten, das in der Schreibtechnik seiner Zeit voraus war. Im Iran des 21. Jahrhunderts gilt Najdi als Vater der postmodernen persischen Literatur.
In Najdis Welt erwachen alle Gegenstände zum Leben. Er gebraucht Substantive und Adjektive in neuartiger Weise. Anstatt zu sagen, dass Taher duschte, schreibt Najdi „die Wassertropfen aus der Dusche umarmten Taher“. In einer seiner Geschichten vermisst eine Puppe das vertraute Nähmaschinengeräusch der Mutter ihrer Puppenmutter.
The Leopards Who Have Run with Me ist auch wegen seines eingängigen Titels so bekannt. Viele Iraner kennen den Titel, ohne die Geschichte gelesen zu haben. Der Titel der Kurzgeschichtensammlung verweist auf ein Gedicht von Najdi, das gleichzeitig sein Vermächtnis ist:
„Die Höhlen, das Kalksteingebirge, die Tropfsteine und die Einsamkeit,
ich vermache dies alles den Leoparden, die mit mir liefen.“
© Qantara 2021