Die dunkle Seite Teherans
Keramat, die Hauptperson in Amir Hassan Cheheltans abschließenden Band seiner Teheran-Trilogie, ist zwielichtig. Dennoch geht es dem Autor nicht um eine moralische Verurteilung der dunklen und gewaltbereiten Seite Teherans, vielmehr dient er ihm dazu, die Widersprüche der iranischen Metropole aufzuzeigen, die diese in ihrer von Revolutionen und Brüchen erfüllten Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts prägen.
Keramat ist eine Romanfigur, die man nicht so schnell vergisst. Er ist von riesiger Statur, trägt einen mächtigen Schnurrbart und neigt auf Grund seiner herkunftsbezogenen Ressentiments zu ungehemmter Brutalität.
Da er weder Bildung noch geistige Begabung besitzt, ist er auf Freunde aus der Teheraner Unterwelt angewiesen. Leute mit bedrohlich klingenden Namen: Schabun "ohne Hirn", Asis, "der Sperber" oder Hassan, "der Kreisel", Männer, die sich auf Schwarzmarkthandel verstehen und denen Keramat nach unvermeidlichen rituellen Initiationsqualen, bei denen ihn der Anführer der Bande mit einem Brandeisen markiert und hinterher missbraucht, mit unverbrüchlicher Treue dient.
Gefangen in Teherans Unterwelt
Obwohl Keramats Umfeld eng mit dem Unterweltmilieu in Verbindung steht, wird der Leser von brutalen Milieuschilderungen weitgehend verschont. Dies rührt vor allem von einem Einfall des Autors, durch den er den Leser schon vor dem eigentlichen Romananfang über Keramats belastete Herkunft informiert.
Dem Text vorangestellt ist ein tabellarischer Lebenslauf, der Fakten aus Keramats Leben (1929: Geburt in einem abgelegenen Dorf, 1941: Er flieht von zu Hause, schlägt sich nach Teheran durch und wird von einem englischen Unteroffizier missbraucht u.s.w.) neben politisch brisante Daten stellt (1953: Aktive Teilnahme am Staatsstreich der CIA gegen Mossaddegh zugunsten des Schahs… 1978/79: Die Islamische Revolution gegen den Schah und Keramats aktive Teilnahme daran… 1980: Beginn des Irakisch-Iranischen Krieges).
So werden dem Leser mit minimalstem Aufwand gewissermaßen als Aperitif die Nahtstellen gezeigt, an denen Keramats Schicksal mit den Wendepunkten der jüngeren iranischen Geschichte verknüpft ist.
Liebe zum Detail
Die Durchdringung der persönlichen Geschichte mit der offiziellen des Landes führt indes nicht zu einem politischen Roman im engeren Sinne. Obwohl Cheheltan – wie er jüngst bei einer Lesung auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin bekräftigte – glaubt, dass jeder Roman auch eine politische Dimension besitzt, gilt sein Augenmerk in erster Linie der genauen Beobachtung und dem Festhalten von Details.
Die pulsierende Metropole Teheran, das Leben auf den Straßen, das Leuchten der Reklamen in der Nacht, die Anziehungskraft der gut besuchten Kinos, in die auch Keramat einkehrt, um kitschige Liebesfilme anzuschauen, wird ihm dabei ebenso zum Gegenstand wie die vielen sexuellen Erlebnisse Keramats, seine zahlreichen Verhältnisse mit Prostituierten, zu denen ihn seine ausgeprägte Männlichkeit nahezutäglich treibt.
Weit entfernt, seinen wüsten Helden zum bloßen Ideenträger der Geschichte zu stempeln, lässt Cheheltan Keramat als Menschen aus Fleisch und Blut auftreten, der zwischen machohaftem Machtgehabe und wachsender Verunsicherung in der Teheraner Gesellschaft hin und her schwankt.
So steht Keramat am Anfang des Romans schon als sechzigjähriger Familienvater vor uns, er hat Haus und Kinder und ein gutes Auskommen, trotzdem fühlt er sich isoliert und ausgebrannt, er wird von Albträumen geplagt, in denen ihn seine Opfer heimsuchen, und ist kaum noch imstande, einen "normalen" Arbeitstag im Gefängnis durchzustehen.
Seine Sehnsucht gilt vor allem einer Frau, der Edelprostituierten Tala, seiner einzigen wirklichen Liebe im Leben, die ihn verlassen, aber nach über zehn Jahren plötzlich wieder angerufen hat.
In die ambivalente Hauptfigur hat der Autor ein ganzes Arsenal unterschiedlicher Tendenzen und Charakterzüge eingepflanzt, so dass es schwer fällt, Keramat gerecht zu beurteilen – einerseits ist er ein primitiver, durchaus korrupter Diener der Macht, der die Gunst der Stunde zu nutzen weiß und gegebenenfalls die politische Seite wechselt, um mit den Mächtigen zu sein. Andererseits sieht er sich als Vertreter des Volkes, dessen konservative Wertevorstellungen ihn mit den Schwachen fühlen und handeln lassen.
Cheheltan betont, dass in dieser "picaresken" Figur durchaus ein moderner "Robin Hood" steckt, der von sich selbst als edelmütiger Retter denkt, wenn er auch einsehen muss, dass er in tiefe Schuld verstrickt ist, die ihn für den Rest seines Lebens verfolgt.
Die "offene Wunde" Teherans
Es sei vor allem seine Absicht gewesen, so Cheheltan, eine Mentalitätsgeschichte der iranischen Metropole zu schreiben, in der "die offene Wunde" Teherans zentral ist. Keramat sei der typische Vertreter einer bestimmten Schicht, in der sich die dunklen, gewaltbereiten Seiten dieser Stadt widerspiegeln.
In der vom Wandel erfüllten Geschichte des Landes habe die Metropole immer eine besondere Rolle gespielt. Sie sei Schmelztiegel und Knotenpunkt, von dem aus in Folge großer Zuzugswellen die Geschicke des Landes bestimmt wurden: auch durch Leute wie Keramat, die sich in ihrer Hilflosigkeit an alte Filmbilder einer vermeintlich heilen Welt klammern – einer Welt, in der Frauen nur als untergeordnete Wesen oder als Prostituierte erscheinen – und diese so sehr verinnerlichen, bis sie eines Tages durch einen revolutionären Systemsturz traurige Wirklichkeit werden.
Dass diese breit gefächerten Intentionen des Autors nicht zu einem verkrampften Erzählton führen, verdankt sich der poetisch sicheren, klaren Sprache, die dem Wechsel der unterschiedlichen Ebenen gerecht wird und für die Leute auf der Straße, den Prostituierten und zahlreichen Figuren der Unterwelt, aber auch für die gehobene Bevölkerungsschicht, in der sich Keramat so unwohl fühlt, den Parvenüs und Akademikern, immer die passende Stillage findet.
Sinnlicher Berufsverbrecher
Einem Berufsverbrecher wie Keramat Sinnlichkeit und Empfindungsfähigkeit zu verleihen, dazu bedarf es schon eines großen literarischen Könnens: "Er liebte den Sommer. Für ihn bedeutete der Sommer den animalischen Geruch der Frauen, den Geruch nass geschwitzter Leisten, den Geruch von herb schmeckenden Mündern und halb geöffneten Lippen, den Geruch von Schweißtropfen, die an alabasterfarbenen Kehlen hinunterrinnen."
In das Lob einzuschließen ist die Leistung des Übersetzers Kurt Scharf, der seine Kriterien in einem interessanten Nachwort zusammenfasst, aus dem auch hervorgeht, dass Cheheltans Roman bisher nur in einer zensierten und gekürzten Ausgabe auf persisch und arabisch erschienen ist.
Er habe, so der Übersetzer, auf den Einsatz von Dialekt (wie im Original) im Deutschen verzichtet und den Figuren eine Umgangssprache verliehen, in der sich auch je nach Erfordernis einfache bis ordinäre Ausdrücke finden. Herausgekommen ist ein flüssig geschriebenes und ergreifend zu lesendes literarisches Kaleidoskop einer der aufregendsten Hauptstädte der Welt.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Amir Hassan Cheheltan: "Teheran. Stadt ohne Himmel." Aus dem Persischen übertragen und mit einem Nachwort von Kurt Scharf, ISBN 978-3-406-63943-2, C.H. Beck-Verlag, München 2012