Mosaikstein für gesellschaftliche Islamisierung

Unlängst hat das türkische Parlament einen umstrittenen Gesetzesentwurf gebilligt, der es islamischen Rechtsgelehrten in Zukunft erlaubt, Ehen rechtskräftig zu schließen. Kritiker befürchten, dass dadurch die Vielehe begünstigt wird und die Rechte der Frauen weiter beschnitten werden. Von Ylenia Gostoli

Von Ylenia Gostoli

Die jüngsten kontroversen Debatten zur sogenannten "Mufti-Ehe" werden vor dem Hintergrund des gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Umbaus der Türkei geführt. Der Gesetzesentwurf mit dem Artikel zur Neuregelung des Personenstandswesens wurde dem Parlament ursprünglich bereits am 25. Juli vorgelegt. Der besagte Artikel würde es den Muftis, also den beamteten islamischen Rechtsgelehrten in Provinzen und Gemeinden, erlauben, Paare rechtskräftig zu trauen. Dies war bislang allein den Standesbeamten der Gemeinden vorbehalten.

Der Artikel wurde schließlich am 18. Oktober bei der Abstimmung über den Entwurf gebilligt, und zwar gegen den entschiedenen Widerstand der Oppositionsparteien CHP und HDP. Die Opposition sieht in dem neuen Gesetz einen Verstoß gegen die türkische Verfassung und will nun rechtlich dagegen vorgehen.

In den vergangenen Wochen gingen Frauenrechtsgruppen landesweit gegen das Gesetz auf die Straße. Rund einhundert Organisationen von Frauengruppen sowie Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Trans- und Intersexorganisationen (LGBTI) initiierten eine Kampagne mit dem Titel "Für ein freies und gleichberechtigtes Leben: Diese Gesetze dürfen nicht rechtskräftig werden".

Verstoß gegen den Säkularismusgrundsatz

"Die Beauftragung eines religiösen Beamten mit der Behandlung zivilrechtlicher Angelegenheiten verstößt gegen das Prinzip des Säkularismus", erklärte Gulsum Kav, Ärztin und Vorsitzende der Frauenrechtsgruppe We Will Stop Femicide. Ihre Ansichten spiegeln die weit verbreitete Besorgnis säkularistisch eingestellter Menschen über die wachsende Rolle der Religion im öffentlichen Leben der Türkei wider.

Gegner des Gesetzes befürchten zudem, dass hierdurch die Zahl der Kinderehen steigen wird, da nunmehr religiöse Beamte die Befugnis erhalten, Ehen zu schließen, ohne zivilrechtlich kontrolliert zu werden.

Der AKP-treue Frauenverband Kadem gab flugs eine von mehr als 90 NGOs unterstützte Erklärung heraus, in der die Kritik als "grundlos" verurteilt wird. Das Gesetz werde - im Gegenteil - dazu beitragen, die Praxis von "geheimen" religiösen Ehen zu unterbinden, in denen Frauen keine Rechte besitzen.

"Auch wenn religiöse Ehen in der Türkei nicht legal sind, so führen sie doch noch immer zu Missbrauchsfällen, von denen insbesondere Frauen betroffen sind", erklärte eine Sprecherin des Verbands. "Um Ausbeutung und Missbrauch zu verhindern, ist die Legalisierung religiöser Ehen als Voraussetzung für einen demokratischen und säkularen Rechtsstaat dringend notwendig."

Angst vor zunehmendem Missbrauch

Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2016 lassen sich 97 Prozent der Paare in der Türkei sowohl standesamtlich als auch religiös trauen. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Zahl der rein religiösen Ehen aufgrund fehlender Urkunden als zu niedrig eingeschätzt wird.

"Es gibt drei Hauptgründe für die Schließung rein religiöser Ehen", berichtet Feride Eralp, eine 27-jährige Übersetzerin und Aktivistin gegen das Gesetz. "Männer versuchen entweder, mehrere Frauen oder minderjährige Frauen zu heiraten oder aber Frauen daran zu hindern, ihre gesetzlich verbrieften Rechte geltend zu machen, wie z. B. gleiche Eigentumsrechte. Wir wissen aus der Forschung, dass die große Mehrheit der nicht amtlichen Eheschließungen oder nicht amtlichen Eheschließungen mit Minderjährigen von amtlichen Imamen durchgeführt wird, die auf der Gehaltsliste des Staates stehen."

2015 entschied das türkische Verfassungsgericht, dass die standesamtliche Ehe nicht zwingend vor der religiösen Trauung geschlossen werden muss, falls die Paare dies möchten. Gegen das Urteil liefen seinerzeit Menschenrechtsaktivisten Sturm, die darin eine Abschaffung der bestehenden Schutzmaßnahmen gegen die Ehe mit Minderjährigen und gegen die Polygamie sahen, während gleichzeitig die Rechte von Frauen und Kindern im Falle einer Scheidung oder des Todes des Ehegatten ausgehebelt würden.

"Was Frauen den rechtlichen Schutz raubt, ist die Tatsache, dass die Regierung kürzlich die Pflicht zur standesamtlichen Trauung vor der religiösen Trauung abgeschafft hat", sagt Gulsum Kav. "Gewalt gegen Frauen bleibt ohne strafrechtliche Folgen. Vorsichtsmaßnahmen werden erst gar nicht ergriffen. Hätte wirklich die Absicht bestanden, Frauen zu schützen, würde man eine Politik der Null-Toleranz gegenüber gewalttätigen Ehepartnern erwarten", fügt sie hinzu und verweist auf einen exponentiellen Anstieg sowohl bei der Tötung von Frauen durch nahe Verwandte als auch bei sexueller Gewalt gegenüber Frauen in den letzten Jahren.

Proteste gegen die "Mufti-Ehe" von Frauenrechtsgruppen in Ankara; Foto: Getty Images/AFP
"Mufti-Gesetz" in der Kritik: Frauenrechtsgruppen und Oppositionelle sehen darin einen weiteren Schritt in Richtung Islamisierung der türkischen Gesellschaft. Das Gesetz ebne den Weg zur in anderen muslimischen Ländern praktizierten Vielehe. Außerdem befürchten die Kritiker eine Zunahme von Eheschließungen mit minderjährigen Mädchen. Schätzungen zufolge werden in der Türkei 15 Prozent aller Mädchen vor ihrer Volljährigkeit verheiratet.

"Dieses Gesetz schafft lediglich einen weiteren Raum, wo der weibliche Körper zum politischen Eigentum wird", sagt Eralp. "Dies ist wieder ein Bereich, in dem Frauen nach zwei Kategorien unterschieden werden: säkular und religiös. Darüber hinaus ignoriert eine solche Kategorisierung die Tatsache, dass in der Türkei auch Menschen anderer Religionen leben."

Abschied von der Wahlfreiheit

Die säkular-religiöse Spaltung der Türkei geht auf die Gründung des Staates und die westlich orientierten Reformen Atatürks in den 1920er Jahren zurück. Mit dem Aufstieg der AKP von Erdoğan im Jahr 2002 veränderte sich die Lage für beide Seiten. Erdoğans politische Maßnahmen – wie beispielsweise die Aufhebung eines Kopftuchverbots an den Hochschulen – wurden zunächst als Mittel zur Überbrückung dieser Kluft wahrgenommen. Mittlerweile sehen darin viele jedoch eine Vertiefung der Spaltung, wobei das jüngste Gesetz nur ein weiteres Beispiel ist.

"Obwohl die [Regierung] wiederholt erklärt hat, dass Frauen frei darüber entscheiden könnten, wie sie sich trauen lassen möchten, wissen wir aus Erfahrung, dass es in den meisten Angelegenheiten keine Wahlfreiheit gibt, besonders wenn das Thema so in der Identitätspolitik verwurzelt ist – und besonders wenn man eine Frau bist", argumentiert Eralp. "Deine Wahl kann die Identität der gesamten Gruppe verkörpern, weshalb die gesamte Gruppe in deinem Namen entscheidet. Frauen werden in der Praxis gezwungen sein, bestimmte Entscheidungen zu treffen, je nachdem, aus welchem Umfeld sie stammen, in welchen Familien sie aufwachsen oder in welche Familien sie einheiraten", fährt sie fort.

"Wer sich stattdessen für eine standesamtliche Trauung in der Gemeinde entscheidet, wird entsprechend abgestempelt sein. Und genau das wird zum Streitpunkt innerhalb der Familien werden. Dieses Gesetz wird die Menschen dazu veranlassen, innerhalb ihres eigenen religiösen und kulturellen Umfelds zu heiraten."

Ylenia Gostoli

© Qantara.de 2017

Aus dem Englischen von Peter Lammers