Der kaltgestellte Präsident

Viele Ägypter sind nach der Machtübernahme durch die Armee in Jubel ausgebrochen. Militär und Polizei haben unterdessen eine Verhaftungswelle hochrangiger Muslimbrüder begonnen. Ein Stimmungsbericht von Matthias Sailer aus Kairo

Von Matthias Sailer

Während des gesamten Mittwochs (3.7.) warteten die Menschen auf das Ende des Ultimatums an Präsident Mohammed Mursi. Am späten Nachmittag waren wieder viele Hunderttausend Anti-Mursi Demonstranten auf den Tahrir-Platz und vor den Präsidentenpalast geströmt.

Die Stimmung war bis dahin weit angespannter, aber auch ruhiger als in den letzten Tagen. "Ruhe, Ruhe!", riefen einzelne Demonstranten, als die Rede des Verteidigungsministers begann, die viele über das Radio hörten. Nach wenigen Minuten explodierte die Menge dann in einem ohrenbetäubenden Freudengeschrei und der Tahrir-Platz verwandelte sich in ein riesiges Fest. Feuerwerkskörper flogen in den Himmel, Menschen lagen sich in den Armen und weinten vor Freude.

Sherif, ein Universitätsprofessor, ist einer von ihnen. Er sagt: "Ich bin überglücklich, dass Ägypter aller Schichten hier auf dem Platz sind. Man kann sagen, dass das unsere Befreiung von den Radikalen ist. Die Muslimbrüder haben viele ernste Probleme gebracht."

Ein Prozess für den Ex-Präsidenten?

Jubelnde Gegner von Präsident Mursi auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: Matthias Sailer/DW
Zweite Revolution und Zeitenwende am Nil: Aufgrund des politischen Drucks weiter Teile der ägyptischen Bevölkerung hatte die Armee Präsident Mursi nach nur einem Jahr im Amt entmachtet.

​​Der Professor betont, sie alle seien Ägypter und nicht etwa Muslime oder Christen, alle tränken dasselbe Wasser und atmeten dieselbe Luft. Um Sherif herum kocht unterdessen die Menge. Ein Mann wirft sich auf die Knie und dankt Gott, seinem Nebenmann schießen Tränen in die Augen. Die Menschen schwenken Tausende Fahnen und blasen in ihre Vuvuzelas und Pfeifen.

Ein Militärhubschrauber fliegt über den Platz und wirft kleine ägyptische Fahnen in die Menge, die in lautem Chor "Das Volk und das Militär sind eine Hand" anstimmt. Eine Frau mit Kopftuch stürmt auf einen ihr unbekannten Mann zu und ruft voller Freude: "Die Jugend befreit uns zum zweiten Mal!" Es ist eine Anspielung auf den Sturz Mubaraks.

Doch es gibt jetzt viele Unbekannte. Das Militär, die politische Opposition, die koptische Kirche und Vertreter der islamischen Religionsgelehrten haben sich geeinigt, dass der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Adli Mansur, Übergangspräsident werden soll. Doch einen detaillierten Fahrplan gibt es noch nicht.

Und auch was mit Präsident Mohammed Mursi passieren wird, bleibt unklar. Einige auf dem Tahrirplatz haben da klare Vorstellungen, zum Beispiel Nadir: "Er muss hinter Gitter und man muss ihm den Prozess machen. Viele Menschen sind während seiner Amtszeit ermordet worden und wir werden diese Menschen nicht vergessen."

Verhaftungswelle gegen Muslimbrüder

Auch was mit den noch immer demonstrierenden Muslimbrüdern werden soll, ist unklar. Für Nadir sind sie erledigt, sie sollen gefälligst nach Hause gehen. Ägypten sei auf dem Tahrir-Platz. Doch auch sie sind viele Hunderttausende. Und die Gefahr von gewaltsamen Zusammenstößen zwischen beiden Gruppen bleibt vorerst bestehen. Wie das neue Regime mit den Islamisten umgeht, wird darüber entscheiden, ob es in Ägypten in den nächsten Tagen Gewalt geben wird.

Das Militär schloss bereits mehrere Fernsehkanäle der Islamisten. Bei ihnen geht die Angst um, verhaftet oder angegriffen zu werden. In der Nacht haben deswegen viele das Protestgelände der Islamisten im Nordosten Kairos verlassen.

Einer der bedeutendsten Oppositionspolitiker, Hamdien Sabahi, habe dem Sender Al-Arabiya bereits gesagt, dass man die Muslimbrüder keinesfalls ausschließen oder gar schlecht behandeln dürfe. Doch die staatliche Zeitung Al-Ahram meldete, dass es bereits 300 Haftbefehle gegen führende Muslimbrüder gäbe. Das wäre eine klare Kampfansage und würde eine echte Versöhnung unmöglich machen.

Anti-Mursi-Graffity in Kairo; Foto: AP
Gebrochene Macht des Präsidenten: Der von der Armee abgesetzte Präsident werde "vorsorglich" festgehalten, erklärte ein ranghoher Militärvertreter. Und auch die Muslimbruderschaft ließ verlautbaren, dass Mursi festgenommen und unter Hausarrest gestellt worden sei.

​​Viele Führungsfiguren der Organisation waren am Mittwoch Abend nicht mehr telefonisch zu erreichen. Ein Sprecher der Muslimbrüder sagte zudem, dass Präsident Mursi in einem Gebäude der Präsidentengarde unter Hausarrest gestellt worden sei. Gleiches gelte für Mitglieder seines Beraterstabs.

Doch der Mehrheit auf dem Tahrir-Platz ist das momentan egal, so auch Mohammed: "Die Rede des Verteidigungsministers war wohl durchdacht und genau richtig. Er hat alle gesellschaftlichen Gruppen gebeten, zusammenzukommen und - unter der Leitung des Militärs - alles zu besprechen. So soll es sein."

"Sie sind Ägypter wie wir"

Im Moment überwiegen bei vielen Anti-Mursi-Demonstranten Freude und auch Schadenfreude gegenüber den Islamisten. Auf einem Plakat beleidigt ein Demonstrant den Ex-Präsidenten, indem er ihn mit dem Namen seiner Mutter als "Sohn der Samia" anredet. Das Feiern nimmt unterdessen kein Ende: Bis spät in die Nacht fahren hupende Autokorsos mit Menschen auf den Dächern durch die Stadt und ununterbrochen wird Feuerwerk in die Luft geschossen.

Am Tahrir-Platz haben sich einige junge Männer ihre Hemden ausgezogen und tanzen zu ägyptischer Popmusik. Mostafa hat die Hoffnung, dass es keine Hetze gegen die Muslimbrüder geben wird: "Sie sind unsere Brüder, Ägypter wie wir. Ich glaube nicht, dass ihnen irgendwas passieren wird. Wir waren die Opposition und haben ihnen nichts getan und jetzt sollte das neue Regime das Gleiche machen."

Doch das bleibt fraglich. Die Zeitung Al-Ahram vermeldete bereits, dass Saad Katatni, der Vorsitzende der "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei" der Muslimbruderschaft, verhaftet worden sei. Und der Sprecher der Muslimbruderschaft, Gehad El-Haddad, twitterte am Donnerstag (4.7.), dass Mursi von seinen Mitarbeitern getrennt und ins Verteidigungsministerium gebracht worden sei.

Matthias Sailer

© Deutsche Welle 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de