„Muslime unter Pauschalverdacht zu stellen, ist kontraproduktiv“
Der abscheuliche, islamisch verbrämte Terror hat sich durch die barbarischen Gewaltakte in Wien und der Nähe von Paris und Nizza wieder in unser Bewusstsein gedrängt. Wir alle sind es leid, solche Nachrichten zu hören. Was kann man nun auf solche Gräueltaten hin sagen oder schreiben? Wie lässt sich das unbeschreiblich Schreckliche in Worte kleiden?
Dann aber wird einem bewusst, dass man genau weiß, was man sagen oder schreiben kann. Es ist bereits zu oft zu hören und zu oft zu lesen gewesen. Seit gut zehn Jahren vernehmen wir von den verschiedensten Seiten die gleichen Sätze. Politiker drücken ihre Bestürzung und ihr Mitgefühl aus.
Muslimische Vertreter und Verbände distanzieren sich. Muslimische und nichtmuslimische Verbandskritiker wiederum unterstellen den Verbänden, sich nicht genügend zu distanzieren oder nicht ausreichend zu handeln. Die Verbände wiederum weisen darauf hin, dass die Extremisten nicht aus den Moscheen kommen und somit auch ihrer Handlungsreichweite Grenzen gesetzt sind.
Währenddessen verbreiten rechtsradikale Stimmen freudig ihre lange vorbereiteten Hassbotschaften gegen Muslime und rufen zur Wehrhaftigkeit gegen den Islam auf. Jeder hat sein Drehbuch. Jeder wartet auf seinen Auftritt. Es ändert sich aber nichts. Wie bei einem Theaterstück wird auf die nächste Vorstellung gewartet.
Versäumnisse von Staat und muslimischer Community
Die Genese des islamisch verbrämten Terrors wurde, auch von diesem Autor, bereits ausführlich abgehandelt. Gleiches gilt für mögliche Handlungsmaßnahmen gegen diese Form von Extremismus.
Sicherlich könnte man auch jetzt über die spezifischen Probleme des französischen Staates schreiben, die gerade das Nachbarland für diesen Terrorismus so anfällig machen: die nicht aufgearbeitete Kolonialgeschichte, der Assimilationsdruck der französischen Gesellschaft und die damit verbundene Muslimfeindlichkeit, das Fehlen einer akademischen islamischen Theologie aufgrund des Laizismus oder die sozialen Probleme und ökonomischen Versäumnisse der Grande Nation, die zu einer Verwahrlosung der Vororte geführt haben.
Im gleichen Atemzug müsste auch über die Defizite der muslimischen Community in Frankreich gesprochen werden: das Etablieren von Inseln des Versagens, indem man die sozialen Strukturen der alten Heimat kopiert hat, das mangelnde Verständnis für die Meinungsfreiheit in der westlichen Hemisphäre, die gegen die Unterdrückung durch die Kirche und gegen ihren Widerstand erkämpft werden musste, aber auch die fehlende Intellektualität, die es schwer macht, zwischen einer Karikatur und dem Propheten Muhammad zu differenzieren oder auf gefühlte Provokationen geistreich zu antworten.
Man könnte auch darauf hinweisen, dass Deutschland in seiner Integrations- und Religionspolitik vieles besser gemacht hat als der Nachbar Frankreich, weshalb wir hierzulande keine permanente Ausgrenzung von Bürgern muslimischen Glaubens haben, die reaktionäre Gewalt befördert.
Aber zahlreiche andere Autoren tun dies bereits und auch dies geschieht nach Drehbuch. Es ändert sich also nichts – außer für die Angehörigen und Familien der Opfer. Für sie wird es nie wieder so sein, wie es einmal war.Muslime als Partner im Kampf gegen den Terror
Rechte, linke und religiös motivierte Terroranschläge nehmen in Europa zu, sie dürfen aber nicht zunehmend als normal hingenommen werden. Diese Hoffnungslosigkeit ermutigt und bestärkt Gewalttäter nur weiter.
Meine Religionsgemeinschaft unter Pauschalverdacht zu stellen, ist ebenso wenig eine Lösung. Das ist zutiefst falsch und beschert dem Extremismus lediglich neue Jünger. Niemand würde auf die Idee kommen, die Mehrheitsbevölkerung nach den zahlreichen rechtsterroristischen Anschlägen in Deutschland unter Generalverdacht zu stellen.
Niemandem würde in den Sinn kommen, nach dem christlich verbrämten Anschlag des Terroristen Anders Breivik das Christentum unter Generalverdacht zu stellen. Was wir stattdessen benötigen ist Zusammenarbeit gegen den islamistischen Terrorismus und da braucht es muslimische Gelehrte, Moscheen und Verbände als zivilgesellschaftliche Partner und einen langen Atem.
Kriminalisieren wir in unserer Gesellschaft aber weiterhin die Weltreligion Islam und unsere Mitbürger muslimischen Glaubens, verlieren wir deren dringend benötigte Unterstützung im Kampf gegen den islamisch verbrämten Terror.
Was es für diesen Kampf übrigens nicht braucht, ist das Drehbuch der Distanzierungsbekundungen. Als Muslim, Islamwissenschaftler und verbandsunabhängiger muslimischer Akteur weigere ich mich, muslimische Gewalttäter in die Nähe meiner Religion und damit auch in meine Nähe zu rücken, wie es die Gesellschaft erwartet.
Dies aus zweierlei Gründen: Zum einen werde ich den Gewalttäter und seine Handlungen nicht aufwerten, indem ich ihn als Vertreter meiner Religion adele. Aus Sicht der muslimischen Gemeinschaft hat dieser Muslim mit dem Ethos seiner Religion gebrochen.
Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Tat nichts mit dem Islam zu tun hat und sie nimmt uns Muslime auch nicht aus der Pflicht, stärker daran zu arbeiten, damit unsere Religion nicht für Gewalttaten pervertiert wird.Die transformative Kraft der Nächstenliebe
Zum anderen verbergen sich hinter der Aufforderung an Muslime, sich zu distanzieren, letztendlich eine Botschaft des Misstrauens und der Verdacht mangelnder Loyalität. Letzteres ist aber Ausdruck von Vorstellungen, die Bürger in höherwertige und minderwertige einteilt.
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Dem darf kein Bürger muslimischen Glaubens nachgeben, denn andernfalls heben wir die Gleichheit zwischen uns Bürgern auf. Navid Kermani schrieb einmal: „In dem Augenblick, in dem ich mich distanziere, billige ich dem Gegenüber das Recht zu, mich zu verdächtigen.“
Wenn also nicht Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, wenn nicht Vorurteilen und Hass nachgegeben werden soll, was also dann tun? Was kann gesagt werden, was vielleicht noch nicht gesagt wurde?
Für mich als religiösen Menschen kann es nur eine Reaktion geben: Nächstenliebe ist die stärkste Antwort auf diese satanischen Taten. Nächstenliebe gibt dem Einzelnen die Kraft zu handeln.
Nächstenliebe gibt uns die Hoffnung, dass Veränderung möglich ist. Nächstenliebe ist eine transformative Kraft, die eine ganze Gesellschaft verändern kann. Sie schafft ein friedliches Zusammenleben unterschiedlichster Menschen. Nächstenliebe entzieht der Polarisierung, der Spaltung und dem Hass die Grundlage. Nächstenliebe ist der Gegner jeglicher Extremisten. Nächstenliebe kann das Drehbuch verändern.
Nächstenliebe aber ist in Judentum, Christentum und Islam nichts Abstraktes, sondern eine konkrete Handlung. Hass entsteht nicht in den Wolken und Nebeln, sondern hier unten auf der Erde, in unserem Umfeld. Hass ist nicht schwer zu erkennen. Nächstenliebe bedeutet auch Zurechtweisung.
Als Individuum kann jeder seinen gesellschaftlichen Beitrag gegen Hass leisten, egal aus welcher Ecke er kommt, egal gegen wen er sich richtet. Nächstenliebe scheint auf den ersten Blick eine seichte Antwort zu sein, aber sie befähigt uns alle zum Handeln, wo die großen Antworten nichts bewirkt haben.
Muhammad Sameer Murtaza ist Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor. Er arbeitet für die Stiftung Weltethos und ist Gutachter bei der in Pakistan herausgegebenen islamwissenschaftlichen Fachzeitschrift Hamdard Islamicus. Zuletzt erschien von ihm: „Worte für ein inklusives Wir: Klartext zur „Muslimfrage““, Verlag tredition, 2020.