Bewährungsprobe für Regierungsgegner
Der Mord an dem Oppositionspolitiker Mohamed Brahmi erschüttert Tunesien. Die am tunesischen Nationalfeiertag begangene Tat bezeichnen Regierung und Opposition als Angriff auf die Demokratie.
Während die als gemäßigt geltende islamistische Ennahda-Partei und ihre Koalitionspartner Ettakatol und CPR zur Besonnenheit aufrufen, fordern oppositionelle Politiker nicht nur die Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC), sondern auch den Sturz der Regierung, da diese keine Sicherheit im Land gewährleisten könne.
Am vergangenen Samstag (27.7.) wurde Brahmi auf dem El-Jellaz-Friedhof beigesetzt, direkt neben Chokri Belaid, der im vergangenen Februar einem Anschlag zum Opfer fiel. Brahmi und Belaid, beide Mitglieder der Volksfrontpartei, galten als scharfe Kritiker der Ennahda-Partei.
Märtyrer für die Demokratie
Nun verbinden die beiden Politiker weitere traurige Tatsachen: Belaid und Brahmi wurden vor ihren Häusern erschossen, in beiden Fällen mussten die Ehefrauen die Tat mit ansehen und in beiden Fällen wurde dieselbe Waffe benutzt. Mohamed Brahmi und Chokri Belaid gelten als Märtyrer für die gerade erst entstehende Demokratie Tunesiens.
Wie nach dem Tod Belaids befürchten Beobachter nun bürgerkriegsähnliche Zustände. Doch in den rund sechs Monaten seit dem Tod von Chokri Belaid versank Tunesien weder im Bürgerkrieg noch wurde die Regierung gestürzt. Denn eine Frage bleibt bei den Forderungen nach einem Regierungswechsel stets unbeantwortet: Worin besteht die Alternative für Tunesien? Wer kann das Land noch in eine demokratische Zukunft führen?
Kopfschütteln verursacht in der Bevölkerung etwa das Verhalten der Oppositionsparteien, die sich seit Monaten in einer Krise befinden. Besonders die säkulare Partei Al-Joumhouri füllte in den vergangenen Wochen die Schlagzeilen. Differenzen zwischen der Führungsriege um Maya Jribi und Mitgliedern führte zu einer Welle von Austritten. Zu den prominentesten Beispielen gehören der ehemalige Exekutivsekretär der Partei, Yassine Brahim, und Meriem Bourguiba-Laouiti, Enkelin von Habib Bourguiba.
Zerstrittene Opposition
Dass jedoch auch unmittelbar nach dem Mord an Mohamed Brahmi einige Mitglieder öffentlich ihren Austritt ankündigten, stößt sowohl in den Reihen der Partei als auch in der Öffentlichkeit auf Unverständnis und wird als Taktlosigkeit bezeichnet. In der Bevölkerung wächst der Eindruck, dass sich die oppositionellen Parteien auf keine einheitliche Linie einigen können und zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um einen Sturz der Regierung bewältigen zu können.
Auch die Reaktion der oppositionellen Abgeordneten in der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC) stößt auf Unverständnis: Unmittelbar nach dem Mord an Brahmi legten 42 oppositionelle ANC-Abgeordnete ihre Ämter nieder. Den Anfang machte Hattab Barakati von der Volksfrontpartei. Mittlerweile ist die Zahl auf 65 gestiegen.
In der Bevölkerung erntet dieser Schritt indes Kritik. Denn bei der Niederlegung des Amtes handelt es sich keineswegs um einen endgültigen Rücktritt – die Abgeordneten beziehen also weiter ihre Gehälter. Dieses Detail wird in sozialen Netzwerken wie Facebook als Indiz der Unglaubwürdigkeit der Opposition gedeutet.
Tunesiens Tamarod-Bewegung
Der Blick vieler Tunesier ging bereits vor dem Anschlag auf Mohamed Brahmi nach Ägypten, wo die Opposition über interne Differenzen hinweg gemeinsam mit den Initiatoren der Tamarod-Bewegung, der Bevölkerung und dem Militär im Hintergrund Präsident Mursi stürzte.
Auch in Tunesien gibt es eine Tamarod-Bewegung, die nach ägyptischem Vorbild Unterschriften für eine Petition sammelt, die zunächst die Auflösung der ANC fordert. Tamarod Tunisie zeigte sich nach Brahmis Tod auf ihrer Facebook-Seite kämpferisch: "Wir nehmen die Straßen des Landes ein, bis das Regime fällt".
Doch die tunesische Tamarod-Bewegung hat bisher kaum Rückhalt in der Bevölkerung. Zudem lehnen die tunesischen Rebellen bislang eine Kooperation mit den Oppositionsparteien strikt ab. Stattdessen betonen die Aktivisten stets ihre Unabhängigkeit von jeder politischen Partei. Erst nach dem Attentat auf Mohamed Brahmi hat die Tamarod-Bewegung Gespräche mit Vertretern der Opposition aufgenommen.
"Wir würden uns derzeit auch mit dem Teufel treffen, wenn er eine Partei hätte", sagte Mahdi Said, ein Sprecher der tunesischen Tamarod-Bewegung, dem Nachrichtenportal Tunisia Live. Ob die Bevölkerung dies als vertrauenswürdig ansieht, ist fraglich. Welche Alternativen bleiben also?
Kein ägyptisches Szenario
Ein Szenario wie in Ägypten, wo das Militär erneut nach dem Sturz der Regierung die Macht übernahm, ist in Tunesien unwahrscheinlich. Im Gegensatz zum 420.000 Mann starken ägyptischen Militär verfügt Tunesien über eine Streitmacht von gerade einmal rund 35.500 Mann. Diese ist mit der Bekämpfung bewaffneter Dschihadisten der Ansar El-Charia und der maghrebinischen Al-Qaida an der Grenze zu Algerien ausgelastet.
Statt auf das Militär setzte Ben Ali während seiner Amtszeit auf seinen Staatssicherheits- und Polizeiapparat, der über 150.000 Mann zählte. Aus rund 3.000 Mann bestand allein die Leibgarde Ben Alis. Für das vernachlässigte Militär blieben kaum materielle Ressourcen. Von einem Wirtschaftsimperium, wie es der ägyptische Militärapparat über Jahrzehnte hinweg entwickelte, kann im Fall Tunesiens keine Rede sein.
Der Distanz zwischen Armee und Regierung ist es auch geschuldet, dass das tunesische Militär seit jeher unpolitisch ist. Einen mit dem ägyptischen Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF) vergleichbaren politischen Einfluss hat das tunesische Militär nicht.
Eine der wenigen politischen Handlungen des damaligen Generalstabschefs Rachid Ammar war die Verweigerung des Schießbefehls, den Ben Ali im Januar 2011 gab, um die Massendemonstrationen gewaltsam zu beenden. Ammar, nach Ben Alis Flucht Oberbefehlshaber der tunesischen Streitkräfte, verabschiedete sich Ende Juni in den Ruhestand.
Selbst seinen Abschied verband Ammar mit einem Hinweis auf die nötige Distanz zwischen Militär und Politik. Gemeinsam mit der Militärführung des Landes kämpft er dafür, dass die politische Neutralität der Armee auch in der neuen Verfassung des Landes festgeschrieben wird – eine Absage an politische Ambitionen des Militärs.
Wer also kann Tunesien aus der Krise führen? Die Bevölkerung sucht weiter nach Alternativen und nach Orientierung – wachsam und skeptisch. Sie hat aus der Vergangenheit gelernt.
Katharina Pfannkuch
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de