Dies ist Yarmouk!
Anfang 2014 richtete sich die weltweite Aufmerksamkeit auf das Yarmouk-Flüchtlingslager in Damaskus. Grund dafür war ein schockierendes Foto, das vom UNRWA veröffentlicht wurde, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Hunderte Männer, Frauen und Kinder sind darauf zu sehen. Sie stehen Schlange für Lebensmittelpakete, die im Rahmen eines Hilfsprogramms verteilt wurden – verglichen mit dem tatsächlichen Bedarf ein "Tropfen auf dem heißen Stein".
Nach dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 verließen viele palästinensische Flüchtlinge das Lager, aber der charismatische Schauspieler und Filmemacher Hassan Hassan (1985-2013) blieb zunächst dort. Als er später gehen wollte, wurde er schließlich festgenommen. Zweieinhalb Monate lang blieb er verschwunden, bis seine Eltern dann von den Sicherheitsbehörden erfuhren, dass er tot war.
Die Behörden weigerten sich, Hassans Leichnam freizugeben, was die Trauer der Eltern noch verstärkte. Heute wird allgemein angenommen, dass er im Gefängnis zu Tode gefoltert wurde, obwohl die Behörden beteuern, er sei bereits an dem Tag gestorben, an dem er im September 2013 verhaftet wurde. Ob dies nun leichter zu ertragen ist, sei dahingestellt.
Diejenigen, die es schafften, Yarmouk zu verlassen, sind heute über alle Kontinente hinweg verstreut. Tasneem Fared (geboren 1989) schaffte es bis nach Sizilien und lebt jetzt in Deutschland; Samer Salameh (geboren 1985) und der gleichaltrige Waed Abou Houssein leben in Frankreich; und Alaa Alsadi (Jahrgang 1986) lebt heute in Chile.
Die jungen Menschen von Yarmouk werden Shebabs genannt. Durch ihren Exodus aus dem Lager hat sich ihr Gefühl für die Nakba, die palästinensische Katastrophe, noch verstärkt.
Ein dauerhaftes Zeugnis
In den Jahren vor dem Arabischen Frühling reiste der französische Filmemacher Axel Salvatori-Sinz nach Syrien, um das Leben der Shebabs zu dokumentieren. Der daraus entstandene Film wurde zum Klassiker – und zu einem dauerhaften Zeugnis über das Leben dieser Träumer. Zwischen Oktober 2009 und Dezember 2011 war Axels Kamera für die Shebabs wie eine Freundin, die ihnen zuhörte und deren Objektiv sich für ihre Sorgen und Hoffnungen öffnete.
Die "Shebabs von Yarmouk" (2012) wurde auf über 70 Filmfestivals aufgeführt und mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Regard Neuf für den besten Erstlingsfilm beim Visions du Reel 2013 und dem RTP-Preis für den besten Dokumentarfilm beim Doclisboa-Festival 2013.
Als Axel dann am 6. Januar 2018 im Alter von 36 Jahren starb, waren seine Familie und Freunde sprachlos. Zu Weihnachten war er ins Krankenhaus eingeliefert und in ein künstliches Koma versetzt worden. Die Diagnose lautete auf akuten Lymphdrüsenkrebs. Zwei Wochen später war er tot.
Eine überwältigende Liebe für Palästina
Axels Beerdigung in Chazay d'Azergue in der Nähe von Lyon war gut besucht. Einer der Sargträger war Samer Salameh, und unter den Trauergästen befand sich auch Tasneem Fared, die heulte, wie es eine palästinensische Schwester bei der Hochzeit ihres Bruders getan hätte. Es wurde klar, wie sehr Axel Palästina geliebt hatte – ein Eindruck, der durch eine bewegende Rede seines Vaters noch verstärkt wurde.
Ein Jahr vor seinem Tod richtete Axel die Kamera auf sich selbst und spielte eine Art korsischen Zweikampf zwischen Vater und Sohn. Die beiden waren nach Cateri in Korsika zurückgekehrt, das alte Heimatdorf der Familie Salvatori. In diesem Film namens "Chjami è Rispondi" (Frage und Antwort) von 2017 singt eine lokale Band ein traditionelles Stück, das nicht nur an Axels Beziehung zu seinem Vater erinnert, sondern auch an das Schicksal der Flüchtlinge von Yarmouk.
In einem mutigen Versuch taucht Axel dabei in die Lacansche Psychoanalyse ein (benannt nach dem umstrittenen französischen Psychiater Jacques Lacan, 1901-1981). Als er nach einem Streit mit seinem Vater auf dem Sofa liegt, scheint er so sehr um Worte verlegen zu sein wie Alaa Alsadi in "Die Shebabs von Yarmouk".
Axel hatte Alaa damals dabei gefilmt, wie sie mit dem Gesicht nach unten auf einem Diwan in einem Raum lag – mit Blick auf das Lager, in dem seine Großeltern nach der Enteignung von 1948 Zuflucht gesucht hatten. Vergleicht man die beiden Filme, kann man sehen, wie Axel aufgrund seiner Wurzeln und seiner eigenen existenziellen Herausforderungen zum perfekten Beobachter der Welt der Shebabs werden konnte.
Am Ende von "Die Shebabs von Yarmouk" bat Axel alle Mitglieder der Gruppe, vor der Kamera ihre Gedanken auszusprechen. Was dabei herauskam, erinnert an wundervoll gestaltete Verse.
Die letzte dieser Lesungen kam von Hassan, der kurz zuvor seinen Militärdienst beendet hatte. Obwohl Axel derjenige ist, der dabei angesprochen wird, ist er nirgendwo zu sehen (aufgrund der immer schlimmeren Lage konnte er nicht nach Syrien einreisen). Aber trotzdem ist seine Anwesenheit in jedem Wort des Shebab spürbar.
"Wer kennt das syrische Regime wirklich?"
Damals wusste Axel noch nicht, dass er zwei Jahre nach der Veröffentlichung von "Die Shebabs von Yarmouk" einen weiteren Film über das Flüchtlingslager drehen würde: "Cher Hassan" (Lieber Hassan) von 2014 wechselt zwischen den Straßen von Paris und den Alleen von Yarmouk hin und her – und gibt Axels eigene Worte wieder. Nun liegt es an ihm, mit Sätzen, die auf der Leinwand erscheinen, einen Brief zu schreiben – an Hassan, seinen Khayya oder Bruder.
Der Film, der "Waed, allen anderen, und dem syrischen Volk" gewidmet ist, setzt Kameraschnitte ein, um uns nach Yarmouk hinein und wieder hinaus zu führen: den Film, den Ort und die Zeit. Wir sehen die Shebabs, wie sie zusammengekauert in einem Raum sitzen, von dem man das Lager sehen kann – übersät mit maroden Gebäuden und pilzartigen Satellitenschüsseln.
Die Botschaft ist klar, und wenn wir die beiden Verlobten Hassan und Waed sehen, wie sie liebevoll gemeinsam auf einem Dach sitzen, wird sie noch stärker. Durch Axels einsamen Monolog ahnen die Zuschauer die zukünftigen Ereignisse voraus. "Cher Hassan" endet mit einer Frage, die bis heute unbeantwortet ist: "Wer kennt das syrische Regime wirklich?"
Nachdem Axel mich eingeladen hatte, die Musik für den Vorspann von "Die Shebabs von Yarmouk" zu schreiben, komponierte ich ein Instrumentalstück. Später wünschte er sich aber einen Text zu der Melodie, also musste ich den Song neu aufnehmen. Iyad Hayatleh, ein Flüchtling aus Yarmouk, der seit zwei Jahrzehnten in Schottland lebt, kam mir zu Hilfe und schrieb einige Verse, die das Phänomen dieses Lagers treffend beschreiben:
Dies ist Yarmouk!
Oh Mond,
Dein Licht vertreibt die Dunkelheit der Besatzung.
Auf deiner sanften Türschwelle
Wird das Lächeln der Kinder über
den Schmerz meines Untergangs siegen.
Und das Blut der Märtyrer
Wird Leben in mich einhauchen.
Und durch den Segen alter Mütter
sauge ich die Hymnen meines Triumphes in mich auf.
Dies ist Yarmouk!
Mein Lied...
Mein Verlangen... meine Sehnsucht…
Alle gelten sie meiner Heimat.
Dies ist Yarmouk!
"Axoul", wie er von seinen Freunden genannt wurde, wird von allen, die ihn kannten und mit ihm arbeiteten, vermisst werden – und auch von jenen, deren Geschichte ihm als Filmmacher und Aktivist am Herzen lag.
Reem Kelani
© Qantara.de 2018
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff