Gefangen im Zwischenreich

Nathan Englander, Autor von Romanen und Shortstorys und ein guter Kenner Israels, hat einen rasanten Agentenroman geschrieben, worin verliebte Spione, dubiose Geschäftsleute sowie ein schier unsterblicher General im Koma daran scheitern eine tragfähige Friedenslösung im Nahostkonflikt herbeizuführen. Von Volker Kaminski

Von Volker Kaminski

Englanders Roman ist wie eine Polit-Soap angelegt: In schnellen Schnitten und abrupten Szenenwechseln (Gazastreifen, Paris, Berlin, Capri usw.) und auf wechselnden Zeitebenen (2002 und 2014) folgt der Erzähler seinen Akteuren in hohem Tempo durch die verzwickte Geschichte.

Anfangs durchschauen wir das Agentennetz kaum, es begegnen uns Personen mit gefälschten Identitäten, und mancher scheinbare Zufall entpuppt sich als Geheimdienst-Arrangement. Der rote Faden aber ist die Politik, einerseits die diplomatischen Bemühungen von höchster Stelle um einen dauerhaften Frieden (es treten Abbas, Olmert, Arafat und Scharon auf), andererseits die verdeckten Operationen der Agenten, die genau diese Absichten unterwandern und für immer neuen Konfliktstoff sorgen.

"Paranoia, das ist mein Ding"

Wie in einem James-Bond-Film jettet der Mossad-Agent Z durch mehrere Länder, landet mit einer schönen Frau in einer Luxussuite eines teuren Pariser Hotels, bevor er schließlich auf einer Jacht im Tyrrhenischen Meer in eine Falle gelockt wird. Allerdings erinnert Z bei seiner Mission eher an den ungeschickten und komischen Johnny English als den stets siegreichen bekannten Top-Spion. Unumwunden gibt er zu: "Logistik war nie meine Stärke … Paranoia, das ist mein Ding."

Anfangs hat Z die besten Absichten, von Idealismus erfüllt und frisch vom Geheimdienst rekrutiert, wünscht er sich nichts sehnlicher als Frieden zwischen den verfeindeten Völkern. Doch durch Unvorsichtigkeit löst er im Gazastreifen ein Massaker aus, bei dem mehrere Familien umkommen, so dass der eigene Geheimdienst ihn aus dem Verkehr zieht und in ein israelisches Wüstengefängnis steckt, wo er über zehn Jahre ohne Prozess und Perspektive auf seine Freilassung wartet. Der einzige Freund, der ihn regelmäßig besucht, ist sein Wärter, der ihn mit Essen und Trinken versorgt und mit ihm in der Zelle zahllose Backgammon-Runden spielt.

Buchcover Nathan Englanders "Dinner am Mittelpunkt der Erde" im Luchterhand Verlag
Nathan Englanders „Dinner am Mittelpunkt der Erde“ ist eine Agentenstory ohne Gut und Böse. Ein ungewöhnlicher, zwischen Aktualität und Hyperrealität wechselnder politischer Roman, dessen menschliche Dimension im Lauf des Textes immer deutlicher durchscheint und der mit einem fulminanten Schluss aufwartet.

Sämtliche politischen Akteure im Roman sind von der gleichen Vergeblichkeit gezeichnet.

Ob auf israelischer oder palästinensischer Seite, alle müssen irgendwann einsehen, dass ihre Situation "verfahren" ist und dass sie bei ihren gefährlichen Aktionen nie die Fäden in der Hand behalten. "Unsere Probleme sind unüberwindlich", resümiert ein hochrangiger palästinensischer Diplomat (der im Roman der "Kartograf" heißt), "es ist völlig hoffnungslos".

Candle-Light-Dinner in einem Tunnel

Dennoch scheint es etwas zu geben, das über der brutalen und unmenschlichen politischen Realität steht und wovon auch der Kartograf erfüllt ist.

Er liebt eine israelische Spionin, sie beide waren ein Paar, und nachdem sie durch die Umstände getrennt wurden, er im Gazastreifen "gefangen" ist, sie auf der anderen Seite des Gazastreifens, fassen sie einen aberwitzigen Plan zu einem Candle-Light-Dinner in einem Tunnel direkt auf der Grenze zwischen Israel und Palästinensergebiet.

Diese metaphorische Pointe zeigt, dass es dem Autor nicht darum geht Agentenabziehbilder zu entwerfen, sondern seinen Protagonisten eine echte menschliche Seite zu geben.

"Wer kommt schon gegen die Liebe an?", fragt einer der durch den Tunnelbau reich gewordenen Palästinenser und deutet damit auf den eigentlichen Kern des Romans: jener "Mittelpunkt", der mitten in der Vergeblichkeit des Agenten- und Diplomatenkriegs liegt und doch nie aus den Augen verloren wird.

Von dieser emotionalen Seite aus nähert sich der Erzähler auch der düstersten Figur im Roman, jenem israelischen "General" (hinter dem sich unschwer Scharon erkennen lässt), der 2014 bereits seit acht Jahren im Koma liegt und nicht sterben kann. Er befindet sich in einem surrealen "Zwischenreich", wohin ihm niemand mehr folgt und wo er viele schmerzliche Momente seines Lebens, wie den Selbstmord seines Sohns, immer wieder neu durchleben muss.

Eine Agentenstory ohne Gut und Böse

Diese Passagen wirken besonders eindrucksvoll, die Zeit scheint in ihnen endlos gedehnt, immer wieder ertönt derselbe Schuss in den Ohren des Generals, doch er bekommt die Realität nicht mehr zu fassen, über die er einst so mächtig geherrscht hat (im Roman wird er als "Mörder" und "Schlächter" bezeichnet, dessen übertriebene Brutalität sogar den Staatsgründer Ben Gurion abstößt).

Trotz dieser Passagen ist der Roman eine Agentenstory ohne Gut und Böse. Englander denunziert keinen seiner zwielichtigen Agenten und Machtmenschen. Zwar verfolgt jeder im dicht geflochtenen Geschehen sein eigenes Kalkül, versucht seinem Gegner zu schaden und der eigenen Seite zu nützen. Doch hat jeder von ihnen auch ein Herz, dem er in der Bedrängnis folgt.

Ein ungewöhnlicher, zwischen Aktualität und Hyperrealität wechselnder politischer Roman, dessen menschliche Dimension im Lauf des Textes immer deutlicher durchscheint und der mit einem fulminanten Schluss aufwartet.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2019

Nathan Englander: "Dinner am Mittelpunkt der Erde", Roman, Luchterhand Verlag 2019, 288 Seiten, ISBN: 978-3-630-87407-4