Rebellische Leidenschaften
Sheika Helawy weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, gewaltsam entwurzelt zu werden. Die gefeierte Autorin – 2019 wurde ihr der AlMultaqa-Preis für ihre Kurzgeschichten-Sammlung "Order C345“ verliehen – widmet ihr neues, von Nancy Roberts übersetztes Buch "dem widerspenstigen kleinen Mädchen, das ich unter der Eiche im Dorf Dhail El E'rj zurücklassen musste“ – einem Dorf, das in den 1990er Jahren dem Erdboden gleichgemacht wurde. In der Widmung heißt es weiter: "Das Dorf starb und ebenso der Baum, doch sie blieb dort.“
"They Fell Like Stars from the Sky” ist Helawys erstes Buch, das vollständig ins Englische übertragen wurde. Das Werk beinhaltet 18 Geschichten, die um das Schicksal von Mädchen und Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen kreisen. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um palästinensische Beduininnen aus Dörfern, die wie Dhail El E’rj offiziell nicht anerkannt sind.
Roberts merkt in ihrem Vorwort an, dass Helawys Dorf vor drei Jahrzehnten von der israelischen Regierung abgerissen wurde, um Platz für eine Eisenbahnlinie zu schaffen. Solche Abrissaktionen gibt es auch heute noch: Im Juli 2023 entschied das Amtsgericht von Be’er Sheva, dass alle 500 Beduinen in dem Ort Ras Jrabah bis März 2024 ihre Häuser räumen und abreißen müssten.
Es geht in der Kurzgeschichten-Sammlung nicht vorrangig um diese Art von Zerstörung, doch verschwinden Dinge oft ohne Erklärung. In "God Bless Toun Field!“ (dt.: "Gott schütze das Toun-Spielfeld!“) ist beispielsweise das titelgebende Fußballfeld plötzlich nicht mehr da.
Doch die Geschichten suggerieren, dass Erinnerungen durch das Erzählen bestehen bleiben können, selbst wenn Häuser, Bäume und Fußballplätze verloren gehen. In der gefühlvollen letzten Geschichte "Queens of Darkness“ (dt. "Königinnen der Dunkelheit“) arbeitet eine Gruppe namenloser Frauen daran, Erinnerungen festzuhalten. Sie vermessen die verlorene Zeit in einem "kleinen Hinterzimmer inmitten von riesigen Kesseln, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, zusammen mit Kajalstiften und einem gewissen Gespür für Glück.“
"Ein gewisses Gespür für Glück“
Dieses "gewisse Gespür für Glück“ ist in den Geschichten Helawys hart erkämpft. In den ersten Geschichten stehen die Mädchen an der Schwelle zur Adoleszenz. Sie versuchen, in einer Welt, die sie ständig bewertet, Raum zu finden für Dinge, die ihnen alleine oder miteinander Freude machen. Mädchen werden nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von Brüdern, den Nonnen in der Schule, Tanten und Onkeln und von jedem Augenpaar in der Nähe ständig begutachtet und beurteilt.
"I'll Be There“ (dt.: "Ich werde da sein“) erzählt von zwei sehr unterschiedlichen Frauen, der Mutter der jugendlichen Protagonistin und der britischen Lehrerin Schwester Bern, doch beide nutzen die beduinische Herkunft der Erzählerin als Totschlagargument.
"Immer wenn ich gegen die strengen Regeln der Schule verstieß“, berichtet die Erzählerin, "nannte mich Schwester Bern eine 'Zigeunerin‘. Dass ich mich eines Tages in eine solche verwandeln würde, war auch die Befürchtung meiner Mutter.“
In dieser Geschichte, wie auch in anderen, sind offene Haare ein ständiger Stein des Anstoßes. Haare, die nicht gebändigt werden, sind ein Vorbote für andere Rebellionen. So sagt die Mutter in einer Geschichte zur Erzählerin: "Ich schwöre bei Gott, ich schwöre bei Gott, wenn deine Haare so aussehen, sterbe ich lieber, als mit dir auf der Straße gesehen zu werden!“
Auch Haare an den Beinen bereiten Sorgen: In "Pink Dress“ (dt.: "Rosa Kleid“) versucht ein Mädchen an der Schwelle zur Pubertät, sich für eine Hochzeitsfeier im Familienkreis die Beine zu rasieren. Es ergeht ihr wie allen Frauen auf der Welt: An einem der Beine vergisst sie auf der Rückseite eine Stelle. Als sie es bemerkt, dreht sie sich um und sieht, wie eine Tante sie abschätzig angrinst.
In den winzigen Dörfern, in denen die meisten Geschichten spielen, sind überall Augen. In "Barbed Question“ (dt.: "Fangfragen“) möchte die junge Erzählerin, nur um mal herauszukommen, in einen Bus ins nahe gelegene Haifa zu steigen. Es ist jdoch fast unmöglich, dies zu tun, ohne an einem Heer von verurteilenden Blicken vorbeizugehen.
Gelingt es einer jungen Frau jedoch, sich nicht von diesen Blicken irritieren zu lassen, dann kann sie aus diesem Sieg Kraft schöpfen: "Wenn eine Frau oder ein Mädchen es schafft, an den versammelten Männern des Dorfes vorbeizukommen – indem sie wahlweise wie eine Schlange kriecht, wie ein Schäferhund rennt oder sich wie der Zigarettenrauch der Männer einfach verflüchtigt – und wenn die Fangfrage 'Wayn, ya m'sahhil?' sie nicht beim Kleidersaum oder am Zopf packt, ist sie bereit, es mit allem aufzunehmen.“
Im Verlauf der Kurzgeschichten wachsen die Mädchen zu Frauen heran. Ihre Probleme vervielfachen sich, wie auch die möglichen Bestrafungen. Alles, was ihnen Spaß macht, was sie lieben könnten, macht ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern Angst.
An der Liebe festhalten
In der Kurzgeschichte "All the Love I've Ever Known“ (dt.: "Alles, was ich jemals liebte“) gilt in dem Dorf Umm al-Zeinat die Maxime: "Bei uns gibt es keine Mädchen, die sich verlieben.“ Natürlich findet man beim Eintauchen in die Geschichte in Umm al-Zeinat sehr wohl Mädchen, die verzweifelt nach Liebe suchen.
Doch hier, wie auch an anderen Stellen in den Kurzgeschichten, ist dieser Wunsch nach Liebe nicht unbedingt gleichbedeutend mit dem Wunsch nach einer klassischen Romanze. Es kann auch die Liebe zur Musik, zu Tieren oder zum Fußball gemeint sein. Die Männer in der Sammlung empfinden alle diese Passionen meist als Bedrohung.
In "W-h-o-r-e“ (dt.: "Hure“) ist der Protagonist ein Mann, der von der Keuschheit seiner Schwester besessen ist. Am Ende wird er heftig verprügelt, während seine Schwester unversehrt davonkommt. Für die Frauen in den Geschichten von "They Fell Like Stars from the Sky“ ist das eher ungewöhnlich, denn nur wenige können der Gewalt so einfach entkommen.
Dennoch trotzen viele den Gefahren und halten an ihren persönlichen Leidenschaften fest. In "Der Tag, an dem mein Esel starb“ wird eine junge Frau von ihren Brüdern zur Heirat gezwungen und landet bei einem Mann, der ihre tiefste Liebe, die zu einem Esel, verhöhnt. Während die Jahre vergehen, erweist sich die Liebe, die sie als Kind dem Esel entgegenbrachte, als stärker als alle Gefühle, die sie für – oder gegen – ihren Mann hegt.
Hierin zeigt sich ein Motiv der Sammlung: Frauen, die von einer tiefen Leidenschaft, gleich welcher Art, erfüllt sind, können in der Welt eine Heimat finden. Beispielsweise ist die Großmutter in "Umm Kulthums Intercessor“ (dt.: "Umm Kulthums Fürsprecherin“) ein leidenschaftlicher Fan der ruhmreichen ägyptischen Sängerin Umm Kulthum.
Die Lieblingsenkelin der Frau ist die Erzählerin der Geschichte, sie bringt immer die neuesten Informationen über Umm Kulthum mit nach Hause. Als die Enkelin etwas über die Sängerin berichtet, was der Großmutter nicht gefällt, entzweien sich die beiden. Doch am Ende siegt zum Glück die Liebe zu Umm Kulthum über alles andere.
Nicht nur die Liebe zu Umm Kulthum scheint belastbar. In "God Bless Toun Field!” erfüllt die Leidenschaft für Fußball das Leben einer anderen älteren Frau. Wir lernen in dieser Geschichte Tante Aisha kennen, die sich überall einmischt und so auch einstmals den Jungen auf dem Spielfeldfeld zurief, was sie tun sollten. Das Spielfeld ist verschwunden und die Jungen sind zu träge auf ihren Sofas sitzenden Männern herangewachsen, doch Tante Aisha kann sich anpassen.
Sie erteilt den Fußballprofis von ihrer eigenen Couch aus Anweisungen. Sie fühlt sich als Teil des Lebens dieser Männer. Das geht so weit, dass sie sich selbst die Schuld daran gibt, dass am 9. Juli 2006 ihr geliebter Spieler Zinedine Zidane dem italienischen Spieler Marco Materazzi einen Kopfstoß verpasst: Sie hatte widerwillig die Couch verlassen, um ihrem Mann das Inhaliergerät zu holen. Nie wieder wird sie ein Spiel unbeobachtet lassen.
Der Ehemann von Tante Aisha gehört glücklicherweise zu den wenigen Männer in den Geschichten, die sich nicht in die Leidenschaft seiner Frau einmischen. Er "starrt auf den Bildschirm und hebt sich seine Beleidigungen auf, bis der Schlusspfiff des Schiedsrichters ertönt und seine Frau sich frustriert oder vor Zufriedenheit strahlend von ihrem Platz erhebt.“
Wir wissen nicht, ob dieser Mann auch zu anderen Zeiten ein guter Ehemann ist. Aber zumindest kann er – anders als der Mann, der den geliebten Esel seiner Frau tötet, oder jener, der seine Frau davon abhalten will, Umm Kulthum zu hören – für ein oder zwei Stunden seine Emotionen hintenan stellen.
Königinnen in der Dunkelheit
Die Frauen und Männer in Helawys Sammlung von Kurzgeschichten leben fast alle in Beduinendörfern, die abgerissen werden könnten, wenn einem Beamten irgendwo in der Ferne der Sinn danach steht. Doch solche Behördenentscheidungen finden in den Geschichten kaum Erwähnung.
Im Mittelpunkt stehen stattdessen die Leidenschaften der Frauen, ob sie einem kleinen Jungen gelten, einem Esel, Umm Kulthum, Fußball oder dem Moment, in dem eine Schaukel ganz weit nach oben fliegt. Die letzte Geschichte, "Königinnen der Dunkelheit“, scheint sich an alle Frauen in den Kurzgeschichten zu wenden. In ihr erfahren wir von der Protagonistin, dass Frauen wissen müssen, "wo Geheimnisse aufbewahrt und wie alte Geschichten geteilt werden.“
Auch die Übersetzung von Nancy Roberts wirkt, als wäre sie mit viel Liebe angefertigt. Die erläuternden Fußnoten, die Roberts anbietet, mögen einigen Lesern unnötig erscheinen, doch die Geschichten sind alle warmherzig wiedergegeben, eindeutig beseelt vom "Geist des Widerstands und der entschlossenen Liebe“, den sie in ihrem kurzen Vorwort zur Sammlung heraufbeschwört.
Es wird schnell klar, warum Roberts sich zu diesen Geschichten hingezogen fühlte. Trotz der vielen Gewalt, die die Frauen in "They Fell Like Stars from the Sky“ erleben müssen, sind es die Geister ihrer fröhlichen, rebellischen Leidenschaften, die uns im Gedächtnis bleiben.
© Qantara.de 2023
Marcia Lynx Qualey ist Gründerin und Redakteurin von ArabLit.org, wo diese Rezension zuerst veröffentlicht wurde.
Sheikha Helawy: “They Fell Like Stars from the Sky & Other Stories”, ins Englische übersetzt von Nancy Roberts, erschienen bei Neem Tree Press, September 2023