Nachhall des Kalten Krieges
Passendes Timing, um sich maximale Aufmerksamkeit zu sichern: Es war am ersten Tag des dreitägigen Staatsbesuchs des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy in Marokko, am 22. Oktober, als die kleine Bombe platzte. "Der französische Untersuchungsrichter Patrick Ramaël lässt internationale Haftbefehle gegen fünf Marokkaner ausstellen", enthüllte der Fernsehsender "France 3".
Angeklagt sind hochrangige Verantwortliche, die in den "bleiernen Jahren" der Monarchie – insbesondere während des Kalten Krieges – die kaltblütige Repression für König Hassan II. organisierten.
Einer der Hauptbetroffenen, General Hosni Benslimane, ist noch heute als Leiter der Königlichen Gendarmerie in Amt und Würden – eine Position, die in Marokko sogar noch höher ist, als die des Armeeführers. Die Affäre hat es also in sich.
Effektiv getimter Paukenschlag
Im Prinzip dürfte ein Untersuchungsrichter gar keinen solchen internationalen Haftbefehl ausstellen, ohne zuvor das Justizministerium um Erlaubnis gefragt zu haben. Die zuständige französische Justizministerin Rachida Dati weilte aber just zum Zeitpunkt der Verkündung an der Seite von Sarkozy auf Staatsbesuch in Marokko.
Nach diesem politischen und medial geschickt getimten Paukenschlag von Untersuchungsrichter Ramaël wird dieser allerdings doch noch die Rückendeckung seines Ministeriums einholen müssen. Und bis zur tatsächlichen Umsetzung der Haftbefehle – sofern es überhaupt dazu kommt – werden noch einige Wochen ins Land ziehen.
Die marokkanische Justiz, die offiziell seit 2005 in derselben Angelegenheit ermittelt, ließ nämlich erklären, dass ihr keine Adresse der Betroffenen vorläge und also auch keine Haftbefehle zugestellt werden könnten.
Auf den ersten Blick wirkt die Affäre, um die es geht, wie ein alter Hut. Denn die Ereignisse haben sich vor 42 Jahren abgespielt. Tatsächlich aber steckt in ihr immer noch eine Menge politischer Sprengstoff: der Vorwurf der direkten staatlichen Verwicklung Frankreichs, Marokkos und der USA wurde bis heute nicht juristisch aufgearbeitet.
Kalter Krieg und die "Tricontinentale"
Am 29. Oktober 1965 wird der marokkanische Oppositionsführer Mehdi Ben Barka mitten in Paris entführt, vor der Brasserie Lipp am eleganten Boulevard Saint-Germain. Ben Barka, der 1959 die sozialistische UNFP (Nationale Union der Volkskräfte) gegründet hatte, war nur wenige Stunden zuvor in Paris eingetroffen.
Die Welt befindet sich sowohl im Kalten Krieg als auch in einer antikolonialen Aufbruchstimmung – Afrika, Asien und Lateinamerika lehnen sich gegen die europäische Unterdrückung auf.
Im Januar 1966 soll in Havanna die "Tricontinentale" stattfinden, eine internationale Konferenz, auf der nationale Befreiungsbewegungen der drei Kontinente sich über Entwicklungsmodelle und Strategien beraten wollen. Die "Tricontinentale" steht im Zeichen des internationalen Sozialismus, und Ben Barka spielt eine zentrale Rolle bei ihrer Vorbereitung.
Ben Barka gerät auch im marokkanisch-algerischen Konflikt zwischen die Fronten. Während des "Tindouf-Krieges" von 1963–64 hält sich Ben Barka in Algier auf. Das offizielle Marokko hat sich dem Lager des Westens angeschlossen, es steht an der Seite Frankreichs und der USA. Algerien tendiert eher zum sozialistischen Lager. Ben Barka entscheidet sich gegen sein Vaterland und unterstützt in dem Konflikt das algerische Regime.
Ein Alibi-Prozess mit Bauernopfern
Bei der Pariser Entführung Ben Barkas wollen Augenzeugen beobachtet haben, dass französische Beamte in dem Auto saßen, in das man den Marokkaner gezerrt hatte. Bei einem Alibi-Prozess werden einige Monate später eine Handvoll Statisten der Affäre verurteilt.
Am 17. April 1967, knapp zwei Jahre nach der Entführung, findet der zweite Prozess in der Angelegenheit statt. In dessen Folge werden der Geheimdienstmitarbeiter Antoine Lopez zu acht Jahren sowie der Polizeibeamte Louis Souchon zu sechs Jahren Haft verurteilt. Bei den beiden handelt es sich indessen nur um Handlanger.
Die wahren Strippenzieher bleiben indes weiter unbehelligt; und auch das Schicksal Ben Barkas wurde nie offiziell aufgeklärt.
Ben Barkas Verbleib
Im Juni 2001 aber lüftete der frühere marokkanische Agent Ahmed Boukhari das Geheimnis. In verschiedenen Interviews, und später in dem Buch "Le secret" (Das Geheimnis), erklärte er, dass Mehdi Ben Barka am 31. Oktober 1965 vom Pariser Flughafen Orly aus nach Rabat ausgeflogen worden sei. Dort sei er im Folterzentrum Dar el-Mokri gelandet, wo seine Leiche in Säure aufgelöst worden sei, wovon – so der frühere Agent – sogar ein Videofilm für König Hassan II. angefertigt wurde.
Das Ganze habe, so Boukhari, unter Aufsicht des CIA-Agenten "Colonel Martin" stattgefunden. Dieser soll nach Boukhari direkten Zugang zum marokkanischen Monarchen gehabt haben. Außerdem soll der CIA-Agent schon bei seinem Einsatz im Iran 1953 dabei gewesen sein. Damals inszenierte der CIA einen Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung von Mohammed Mossadegh.
Viel Zeit bleibt nicht
Aufgrund dieser vielfältigen politischen Verwicklungen unterschiedlicher Staaten auf höchster Ebene, ist es nicht wahrscheinlich, dass die Justiz sämtliche Einzelheiten der Ben-Barka-Affäre vollständig wird aufklären können. Viel Zeit bleibt aber nicht – viele der Verantwortlichen haben ein hohes Alter erreicht, und es gilt als wahrscheinlich, dass mehrere Verantwortliche gar nicht mehr am leben sind.
Nach über 40 Jahren kommt jetzt endlich Schwung in die Ermittlungstätigkeiten. Der Untersuchungsrichter Patrick Ramaël ist zwar bereits der achte Untersuchungsrichter, der auf französischer Seite ernannt worden ist, zu dem Dossier zu ermitteln. Aber anscheinend ist er der erste, der nicht nur pro forma ermittelt, sondern dem die Aufklärung dieser historischen Affäre ein echtes Anliegen ist.
Bernhard Schmid
© Qantara.de 2007
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