Kalter Krieg um Marokkos Sprachen

In Marokko wird heftig um die Unterrichtssprache im Bildungssystem gerungen. Dabei geht es auch um Fragen der nationalen Identität. Seit der Bildungsreform von 2019 ist Französisch auf dem Vormarsch, obwohl die Verfassung den Vorrang des Arabischen und der Berbersprachen Tamazight festschreibt. Von Mohammed Taifouri

Essay von Mohamed Taifouri

Zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten der Bildungsreform vom August 2019 werden in Marokko die Auswirkungen der sprachlichen Weichenstellung im marokkanischen Bildungssystem immer deutlicher. Die Reform sieht vor, naturwissenschaftliche und technische Fächer auf Französisch statt auf Arabisch zu unterrichten, um Studierende besser auf eine akademische Laufbahn vorzubereiten. Französisch ist in Marokko auch heute noch die Sprache der akademischen Bildung. 

Erste Ergebnisse dieser Umstellung im Bildungssystem veröffentlichte der Think Tank Amaquen in dem Bericht "Die Qualität der allgemeinen und beruflichen Bildung in Marokko im Licht der Verfassung von 2011“.  Darin heißt es, in den Bildungseinrichtungen werde die arabische Sprache zunehmend zugunsten des Französischen zurückgedrängt. 

Seit der Bildungsreform sank dem Bericht zufolge die Zahl der auf Arabisch erteilten Unterrichtsstunden von 6.290 auf nunmehr 3.468 Stunden. Hingegen dominiert die Sprache von Molière den Unterricht: Die Zahl der auf Französisch erteilten Unterrichtsstunden stieg von 2.788 auf 5.610 und damit auf nahezu zwei Drittel der Gesamtstundenzahl.

Die in der Reform als neue  Weichenstellung angekündigte Berücksichtigung von drei Sprachen in der Primarstufe (Arabisch, Tamazight und Französisch), ergänzt durch Englisch in der Sekundarstufe, entpuppt sich damit als eine Scheinreform, um die "Französisierung“ des Bildungswesens in Marokko zu maskieren. 

Anfang 2015 brachte Rachid Belmokhtar, damals Bildungsminister in der Regierung von Abdelilah Benkirane, ein Memorandum heraus, in dem er seine Behörde aufforderte, den Unterricht in der Sekundarstufe in wissenschaftlichen und technischen Fächern auf Französisch erteilen zu lassen. Damit war das Projekt der "Französisierung“ des Bildungswesens auf den Weg gebracht, noch bevor dafür eine gesetzliche Grundlage geschaffen war.

Seine einsame Entscheidung begründete Belmokhtar mit dem Verweis auf eine Rede von König Mohammed VI., in der der Monarch sagte, "Bildungsreformen müsssen frei von persönlichen oder politischen Erwägungen sein, die angeblich die Identität schützen sollen, tatsächlich aber künftige Generationen benachteiligen könnten.“

"Boulevard El Yarmouk"-Straßenschild in Marrakesch; Foto: picture-alliance/image broker/Fabian von Poser
Kalter Krieg um die Sprache: In Marokko kocht derzeit ein Konflikt hoch, der die Identität des Landes berührt. Am Anfang stand die Forderung, "Sprachbarrieren“ zu senken, die mit dem Hocharabischen verbunden sind, und eine sprachliche "Umstellung“ einzuleiten, so dass die marokkanische Umgangssprache Darija Eingang in den Schulunterricht findet. Doch mit ihrem Vorstoß ernten die Initiatoren der Kampagne für mehr Darija in den Schulen heftigen Gegenwind. Andere forderten in Medienkampagnen, ganz vom Französischen auf das Englische umzustellen. 

Versteckte "Französisierung" des marokkanischen Bildungswesens

Die Festschreibung des Französischen als Unterrichtssprache macht das Sprachenwirrwarr in Marokko noch unübersichtlicher. Auch steht dies im Widerspruch zur Verfassung von 2011, nach der "Arabisch die Amtssprache Marokkos“ ist. In Artikel 5 verpflichtet sich der Staat, "die arabische Sprache zu schützen und zu entwickeln und ihren Gebrauch zu fördern“.

Mit der Verfassungsreform von 2011 wird erstmals Tamazight (als Oberbegriff für Berbersprachen und -dialekte) als Amtssprache anerkannt und ausnahmslos als gemeinsames Erbe aller Marokkaner bezeichnet. Die Verfassung sieht zudem ein Verfassungsgesetz vor, das den Prozess der Umsetzung des Amtssprachencharakters von Tamazight sowie die Modalitäten der Integration dieser Sprache in das Bildungswesen und zentrale Bereiche des öffentlichen Lebens definiert, damit Tamazight seine Funktion als Amtssprache erfüllen kann. 

Tatsächlich aber hat sich der Sprachgebrauch im Bildungsystem in nur zwei Jahren deutlich zugunsten des Französischen verschoben. Tamazight als Muttersprache der meisten Marokkaner in der Rif-Region, in der Souss-Ebene, im Atlas-Gebirge und im Südosten des Landes hat nicht annähernd die Aufmerksamkeit erhalten – und dies obowhl die Berbersprachen bereits zwanzig Jahre zuvor Eingang in das staatliche Bildungssystem gefunden hatten.

Tamazight wird nach jüngsten Statistiken landesweit in weniger als 15 Prozent der Grundschulen unterrichtet. Dabei sieht das Strategiepapier "Vision Stratégique de la Réforme 2015-2030“ des marokkanischen Hohen Rats für Bildung, Ausbildung und Wissenschaftliche Forschung  vor,  Tamazight innerhalb von acht Jahren zu einer Sprache zu machen, in der die Menschen miteinander kommunizieren können. Das erscheint angesichts der aktuellen Lage unerreichbar. 

Die unverhältnismäßige Bevorzugung des Französischen ist umso bemerkenswerter, als eine Reihe führender Köpfe in der marokkanischen Politik, darunter der ehemalige Premierminister Saadeddine Othmani und zuletzt auch Nizar Baraka, Minister für Infrastruktur und Wasser, wiederholt dazu aufgerufen haben, den Wortlaut der Verfassung zu respektieren.

Mit anderen Worten: Bei der Veröffentlichung von Dekreten oder amtlichen Dokumenten, administrativen Mitteilungen und allen anderen Formen der offiziellen Korrespondenz sollte Arabisch verwendet werden. Damit sollen Klagen vermieden werden, die den Staat teuer zu stehen kommen könnten, denn die Justiz ist tendenziell der Auffassung, dass die Veröffentlichung amtlicher Dokumente in einer Fremdsprache (also nicht Arabisch oder Tamazight) nicht rechtsgültig sei. Dokumente in französischer Sprache wären rechtswidrig. Sie würden einen gravierenden Verstoß gegen herrschendes Recht darstellen, weil sie den Willen des Volkes ignorieren, wie er im Verfassungstext zum Ausdruck kommt. 

Verfolgt Marokko eine klar definierte Sprachenpolitik? 

All dies wirft die Frage auf, ob Marokko überhaupt eine klar definierte Sprachenpolitik verfolgt und ob sich die Verantwortlichen im Bildungswesen an sie halten. Haben die Verantwortlichen eine Vision, wie sie mit der vielfältigen sprachlichen Landschaft im Bildungssystem umgehen? Erkennen sie, welche Folgen eine Sprachenpolitik hat, die die Muttersprache marginalisiert und sich der Dominanz einer frankophonen Minderheit unterwirft? 

Nach Angaben der Organisation internationale de la Francophonie (OIF) liegt der Anteil der französischsprachigen Bevölkerung in Marokko bei gerade einmal 33 Prozent. Nur etwa 13,5 Prozent der Marokkanerinnen und Marokkaner beherrschen die französische Sprache fließend. Ist der Wille der meisten Marokkaner, wie er in die neue Verfassung von 2011, auf dem Höhepunkt des marokkanischen Frühlings, eingeflossen ist, nicht Ausdruck einer "nationalen Identität“? Lässt sich die Bildungsmisere in Marokko wirklich auf eine Frage der Sprachen verengen oder ist sie nicht weitaus komplexer?

Marokkos Premierminister, der Geschäftsmann Aziz Akhannouch; Foto: Xinhua News Agency/picture-alliance
Marokkos Premierminister Aziz Akhannouch: Die meisten Minister seiner Regierung haben eines gemeinsam: "Sie haben alle das französische Schul- und Bildungssystem durchlaufen“, schreibt Mohamed Taifouri. Obwohl Arabisch laut Verfassung von 2011 zusammen mit Tamazight die Amtssprache Marokkos ist, "werden die Befürworter der französischen Sprache höchstwahrscheinlich wieder erstarken und mit der derzeitigen 'Regierung der Honoratioren' an Einfluss gewinnen.“



Wenn in der Behauptung ein Körnchen Wahrheit steckt, die Sprachenfrage mache den marokkanischen Bildungssektor zu einer "riesigen Geisterfabrik, die Geld verbrennt und doch nur Mist produziert“, hätten die Architekten dieser Sprachenpolitik vielleicht mehr Mut beweisen und dem Beispiel Ruandas folgen sollen, wo man das Bildungssystem ganz vom Französischen auf das Englische umgestellt hat.

Französisch rangiert ohnehin weltweit nur noch auf Platz neun der meistgesprochenen Sprachen. Selbst die Franzosen verlässt zunehmend der Mut, ihre eigene Sprache zu verteidigen, wie es manche aus unserer Generation noch tun. Um mit dem ehemaligen französischen Premierminister Edouard Philippe zu sprechen: "Englisch lernen ist der richtige Weg zu einer besseren Zukunft.“ 

Es geht auch um Fragen der Identität

Seit dem Arabischen Frühling herrscht in Marokko ein kalter Krieg um die Sprachen. Dabei geht es auch um grundlegende Fragen der Identität. Die Argumente in dieser Debatte wurden von den Apologeten des Französischen bestimmt. Am Anfang stand die Forderung, "Sprachbarrieren“ zu senken, die mit dem Hocharabischen verbunden sind, und eine sprachliche "Umstellung“ einzuleiten, damit die marokkanische Umgangssprache Darija Eingang in den Schulunterricht findet. Doch mit ihrem Vorstoß ernteten die Initiatoren dieser Kampagne zugunsten des Darija heftigen Gegenwind.

In Medienkampagnen wird gar gefordert, ganz vom Französischen auf das Englische umzustellen. Unterstützung erhielt diese Forderung auch durch die Entscheidung des Hochschulministeriums, die bisherige "langwierige" Studienstruktur aus Bachelor - Master - Promotion zu reformieren und einen neuen vierjährigen Bachelor-Abschluss einzuführen, der international eine höhere Akzeptanz genießt. 

Höchstwahrscheinlich wird die Französisch-Lobby in Marokko wieder erstarken und mit der derzeitigen"„Regierung der Honoratioren“ an Einfluss gewinnen. Die meisten Minister der Regierung von Premierminister Aziz Akhannouch haben eines gemeinsam: Sie haben alle das französische Schul- und Bildungssystem durchlaufen. Besonders deutlich wird das an der eiligen Kehrtwende des Hochschulministeriums beim Bachelor-System – nur fünf Monate, nachdem es an den marokkanischen Hochschulen eingeführt wurde. 

Mohamed Taifouri 

© Qantara.de 2022 

Übersetzt aus dem Arabischen ins Englische von Chris Somes-Charlton /  

Deutsche Übersetzung: Peter Lammers