Islam-Theologin erstmals in Ethikrat berufen
Der Deutsche Ethikrat, so lautet der erste Satz auf der Homepage, "beschäftigt sich mit den großen Fragen des Lebens". Angesichts der Corona-Pandemie werden die großen Fragen mehr werden. Die bislang letzte Wortmeldung des Gremiums war im April eine "Ad-hoc-Empfehlung" zu Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Für eine Gesellschaft, in der Konflikte schärfer, Güter knapper und Leben bedrohter erscheint, gewinnt Ethik, also das reflektierte Nachdenken über sittliches Verhalten, an Bedeutung. Was soll, was muss ein Mensch tun? Was ist geboten? Ein moralischer Kompass wird so dringend benötigt wie seit Jahren nicht mehr.
Insofern passt es, dass der Ethikrat Ende Mai zu seiner ersten Sitzung in neuer Besetzung zusammengekommen ist. Und zwar nicht virtuell wie so viele Konferenzen derzeit. Tatsächlich haben sich seine Mitglieder physisch in einem großen Saal des Bundestages getroffen. Im April hatten Bundesregierung und Bundestag 24 neue Mitglieder bestimmt. Weil das Parlament den beiden von der rechtspopulistischen AfD vorgeschlagenen Experten die Zustimmung verweigerte, wurde die sonst übliche Zahl von 26 nicht erreicht.
Perspektive der Religionen
Von den 24 Mitgliedern sind elf Frauen und 13 Männer, die unterschiedliche Bereiche wie Philosophie, Recht, Medizin sowie Sozialwissenschaften und Theologie abdecken. Auffallend ist: Nur einer von ihnen ist in einem der fünf ostdeutschen Bundesländer tätig. Und: Seit Gründung des Ethikrates im Jahre 2001 zählte zu den Teilnehmern immer ein männlicher Bischof mit Expertise. Diesmal nicht mehr.
Dagegen gibt es jetzt fünf Vertreter der christlichen Theologie, darunter drei katholische Moraltheologen, und je einen Vertreter jüdischen und muslimischen Glaubens. Das sind der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, und die Muslima Muna Tatari. So stark war die theologische Perspektive nie im Deutschen Ethikrat vertreten. Daraus spricht, wie sehr Parlament und Regierung die Perspektive der Religionen nach wie vor schätzen.
Mit Muna Tatari ist zum ersten Mal seit Bestehen eine Muslima Mitglied des Gremiums. In den vergangenen zwei Amtszeiten war der Islam von einem Mainzer Medizinethiker vertreten worden. Die 49-jährige Tatari lehrt an der Universität Paderborn Islamische Systematische Theologie. Zu ihren Themen zählen zeitgenössische Ansätze im Islam, befreiungstheologische Perspektiven und die öffentliche Mitsprache von Theologie in einer säkularen Gesellschaft.
Fragen zur gesellschaftlichen Zukunft
In Zeiten einer auseinanderstrebenden Gesellschaft betont Tatari im Gespräch mit der Deutschen Welle die Frage nach dem Verbindenden, dem gemeinsamen "Narrativ". Einer sinnstiftenden, gesellschaftsverbindenden Erzählung, die beeinflusst, wie Umwelt wahrgenommen wird, die Werte transportiert und Emotionen auslöst. Aus der Zukunftsforschung habe sie gelernt, welche wesentliche Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung "ein Narrativ hat, das auf die Zukunft hin verbindet und in dem Fragen nach dem Wohin, Warum und Wie im Mittelpunkt stehen."
Diese grundsätzlichen Fragen bricht die Wissenschaftlerin auf einzelne ethische Debatten herunter. Angesichts der medizinischen, wirtschaftlichen, sozialen und klimabedingten Herausforderungen könne es "nicht nur um das technisch Machbare gehen". Zur Orientierung brauche es ethische Grundlegungen, die "nicht nur eine Weite vermitteln, sondern auch in der Lage sind, Hilfestellungen für konkrete Problemlösungen zu geben."
Das Wohl aller im Blick
In diesem Sinne ist Tatari auch froh um ihre Berufung in den Ethikrat. Damit "ein Narrativ für die Zukunft unserer Gesellschaft trägt und es möglichst viele Menschen mitnehmen kann", sei wichtig, viele Stimmen zu hören und zu integrieren. Aus islamisch-theologischer Sicht wolle sie einen Ansatz unterstützen, der "das Wohl aller in den Blick nimmt und dabei an diejenigen denkt, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind". Diese Perspektive solle Impulse unterstützen, „die friedensstiftend und emanzipatorisch wirken".
Nach der gegenseitigen Vorstellung wählten die 24 Mitglieder zunächst einen Vorstand. Die Mitwirkung des bisherigen Vorsitzenden, des Erlanger evangelischen Ethikers Peter Dabrock, endete nach acht Jahren. Anschließend standen dringliche Sachthemen an, auch wegen Corona. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat die Expertinnen und Experten bereits um eine Bewertung des von ihm favorisierten Immunitätsausweises zum Coronavirus gebeten.
Plan des Gesundheitsministers ausgebremst
Spahn bekam im vorigen Jahr deutlichen Widerspruch aus dem Ethikrat. Damals wollte der Minister das Verfahren der Organspende in Deutschland rechtlich neu regeln. Diverse Ethikräte stellten sich dem entgegen. Am Schluss scheiterte Spahns Vorschlag im Bundestag. Das Beispiel zeigt, dass die Experten keineswegs zum Abnicken politischer Vorschläge bestellt sind.
Das wurde dem 2001 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder errichteten "Nationalen Ethikrat", bei dem der Bundestag keinerlei Mitsprache hatte, immer nachgesagt. Erst unter Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) erfolgte 2008 die befreiende Neuaufstellung des Gremiums. Für den Deutschen Ethikrat band Schavan das Parlament ein; im Gegenzug bleibt der Regierung seitdem eine überfraktionelle Arbeitsgruppe des Bundestages, eine sogenannte Enquetekommission, zu Bioethik-Fragen erspart.
Manch ein Mitglied des Gremiums irritierte allerdings, wie selbstverständlich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zu Beginn der Corona-Krise den Ethikrat überging und die technisch-naturwissenschaftliche Akademie Leopoldina in die Beratungen einbezog. Dabei ging es durchaus um ethische Fragen.
Trend zur internationalen Vernetzung
Ein Blick auf das internationale Parkett zeigt, welche internationale Relevanz ethische Abwägungen zu Grenzfragen der Forschung heute haben. Zahlreiche europäische Länder haben vergleichbare Gremien, auch die USA. Oft befassen sie sich mit der Genforschung, zusehends auch mit Aspekten der Künstlichen Intelligenz und der menschlichen Selbstbestimmung. Auf europäischer Ebene gibt es eine "Europäische Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der Neuen Technologien", die aber von der Arbeitsintensität und vom Output längst nicht an den Deutschen Ethikrat heranreicht.
Wer weiß, eventuell gehen die Ethikrat-Mitglieder, die sich regelmäßig mit den deutschsprachigen Nachbarländern austauschen, schon Mitte September auf internationales Parkett. Dann steht nach jetzigem Stand in Lissabon ein globaler Gipfel von Ethikräten und Bioethik-Komitees an, das vom März auf den Herbst verschoben wurde. Falls Corona nicht wieder dazwischenkommt.
Christoph Strack
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