"Wir sitzen alle im selben Boot"
Was halten Sie von der globalen Friday's for Future-Bewegung und den anhaltenden Schülerstreiks zur Rettung des Weltklimas?
Tarik Quadir: Die Jugendbewegung ermutigt mich, denn um die Natur zu retten, braucht es nicht weniger als einen gigantischen Wandel unserer Denk- und Lebensweise. Diesen können wir nicht ohne den Elan der Jugend herbeiführen. Dabei ist es höchste Zeit. Wir besitzen Technologien um Sonnen-, Wind- und geothermische Energien zu erzeugen. Diese können mithilfe einer unbeirrten Politik und finanzieller Unterstützung fossile Brennstoffe als Quelle des globalen Energiebedarfs ersetzen.
Der Überschuss an Treibhausgasen ist jedoch nicht die einzige Bedrohung für die Umwelt. Wir verschmutzen Land, Wasser und Luft auf unterschiedliche Weise. Dies können wir nicht alleine mit verschiedenen Technologien rückgängig machen. In hohem Tempo zehren wir unsere Grundwasservorkommen auf, rotten die Biodiversität auf dem Land und im Wasser aus, machen unseren Boden durch industrielle Landwirtschaft unfruchtbar und manipulieren unsere Nahrung mit Antibiotika und belasten sie mit Pestiziden und Herbiziden.
Warum haben sich in den islamisch geprägten Ländern bislang nur wenig Menschen an den Umweltbewegungen zur Rettung des Weltklimas beteiligt?
Quadir: Die islamische Welt war zu sehr damit beschäftigt, sich an die sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Prioritäten, die der Westen in den letzten 200 Jahren global durchgesetzt hat, anzupassen. Aus diesem Grund war die hinduistische und buddhistische Welt bislang nicht so aktiv wie der Westen. Trotzdem sind die meisten Muslime für die Ignoranz verantwortlich zu machen, was die Lehren ihrer eigenen Tradition über die Natur angeht.
Da Industrialisierung und moderner Kapitalismus sich zunächst im Westen ausbreiteten, bevor sie anderswo erstarkten, wurde die Umweltkrise zuerst im Westen "sichtbar". Deshalb gibt es in der islamischen Welt die fälschliche Annahme, der Westen müsse die Umweltkrise lösen, da sie dort ihren Anfang genommen hat. Muslime sollten sich daran erinnern, dass die ganze Menschheit in einem Boot sitzt, dieser Erde. Wenn wir nicht lernen, dieses gemeinsam zu retten, werden wir zusammen untergehen. Zumindest müssen Muslime ihren Teil beitragen.
Können Sie Beispiele für aktives muslimisches Umweltschutz-Engagement nennen?
Quadir: Ja, es gibt viele lokale und regionale Beispiele für aktiven Umweltschutz in islamischen Ländern. Zum Beispiel die Geschichte eines einfachen, gläubigen Rickschafahrers in einer Kleinstadt in Bangladesch. Bei Umweltaktivismus im modernen Sinne fällt mir auch Fazlun Khalid ein, dem Gründer von IFEES (Islamische Stiftung für Ökologie und Umweltwissenschaften), die bereits einige erfolgreiche Umweltprojekte in Asien und Afrika durchgeführt hat. Oder etwa die islamischen Ökoschulen in Indonesien.
Was lehrt der Islam über das Verhältnis von Mensch zur Umwelt?
Quadir: Nicht nur die moderne Wissenschaft lehrt uns, wie wir der Natur begegnen sollten. Der Islam und andere Religionen haben viel dazu zu sagen. Der Koran bringt uns bei, dass jede Kreatur ein Zeichen Gottes ist und jede Spezie einzigartig ist. Alles wurde in einer Balance gehalten, die der Mensch nicht stören sollte. Die Menschen wurden als Stellvertreter Gottes auf Erden geschaffen und haben deshalb die Verantwortung, sich um den Planeten zu kümmern. Stellvertreter Gottes zu sein, gibt uns jedoch keinen Freifahrtschein, die Erde auszubeuten, denn ihre Geschenke sind - wie der Koran sagt - unter allen lebendigen Geschöpfen zu teilen. Vor allem besagt das islamische Credo der göttlichen Einheit (tawhid), dass Gott/die Höchste Wahrheit (al-Haqq) eins ist (al-Ahad; al-Wahid). Daher sind wir alle ein Teil Gottes und eng miteinander verbunden. Was auch immer wir der geringsten von Gottes Kreaturen antun, tun wir uns selbst an.
Wenn Sie einen Punkt nennen sollten, der in der aktuellen Klimadebatte fehlt, welcher wäre das Ihrer Ansicht nach?
Quadir: Die aktuelle Debatte konzentriert sich fast ausschließlich auf die Notwendigkeit, fossile Brennstoffe aufzugeben. Selten stellt man die vorherrschende materielle Lebensweise und ihre Werte in Frage, die der globalen Konsumkultur zugrundeliegen. Man lässt außer Acht, dass die moderne Wissenschaft zwar zu Messungen taugt und uns die Probleme im Äußeren vor Augen führt, die Nutzen der Wissenschaft und die ihr zugrundeliegende rein materialistische Weltsicht jedoch unsere Seelen irregeführt haben. Daher liegt die Wissenschaft an der Wurzel eines Werte- und Wirtschaftssystems, welches die Umweltkrise überhaupt erst ausgelöst hat.
Die meisten Umweltaktivisten haben einen eher wissenschaftlich-säkularen Hintergrund. Können wir die Erde ohne Gott retten?
Quadir: Aus islamischer Perspektive liegt die Ursache für die Umweltkrise vor allem im Verlust einer spirituellen Sicht auf die Natur. Viele christliche Heilige sprachen im Mittelalter von Natur auf eine ähnliche Art und Weise wie es der Koran explizit tut. Nach dem Siegeszug der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert begann Europa, die traditionelle christliche Ehrfurcht gegenüber der Natur zugunsten einer rein materialistischen Perspektive, wie sie die moderne Wissenschaft zeichnet, aufzugeben.
Wir müssen verstehen, dass die Art und Weise, wie wir etwas sehen, weitgehend bestimmt, wie wir mit ihm interagieren. Diese Veränderung der Weltsicht von einer spirituellen zu einer rein materiellen liegt dem modernen Kapitalismus und der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts begründet. Sollten wir versuchen, dem bevorstehenden Umweltnotstand in den nächsten Jahrzehnten allein mithilfe von säkularen Lösungen zu begegnen, das heißt ohne die spirituelle Natursicht wiederherzustellen, so werden wir die Disaster höchstens hinauszögern können.
Sollten wir unsere Energien nicht auf Gott oder die "höchste Wirklichkeit" richten, werden wir es nicht schaffen, die Flamme der Gier, welche über 200 Jahre angefeuert wurde, unter Kontrolle zu halten und die Welt vor gezielter Ausbeutung zu schützen. Die Umweltkrise ist nicht das Resultat des Glaubens, sondern die Folge einer unkontrollierten Gier und Achtlosigkeit gegenüber dem Göttlichen. Noch nie in der Menschheitsgeschichte hatten wir eine Umweltkrise, bis heute im "säkularen Zeitalter", einer Zeit in der wir denken, dass wir mit der Natur tun und lassen können wie wir wollen.
Welche Rolle kann der Islam dabei spielen, die Einstellung der Menschen gegenüber der Umwelt zu verändern?
Quadir: Es gäbe keine Umweltkrise, wenn unser vorherrschendes Wirtschaftssystem des modernen Kapitalismus der Gier keinen freien Lauf gewähren würde. Die moderne wissenschaftliche Weltsicht hat unsere Sichtweise der Natur als einzigartige Schöpfung Gottes zu der einer Materie reduziert, derer sich der Mensch nach Gutdünken bedienen kann. Im Islam wird die menschliche Verantwortung gegenüber der Natur in seinem Basistext, dem Koran, und in den Aussprüchen und Überlieferungen des Propheten Mohammed deutlich.
Muslime sollten sich, ohne dabei Zeit zu verlieren, des Ausmaßes der Umweltkrise bewusst werden. Dann müssten sie realisieren, wie der Koran und der Prophet von uns verlangen, wie wir die Natur behandeln sollten. Diejenigen, die sich Muslime nennen, müssten achtgeben und sich mit Güte auf dem Planeten bewegen: “Und die Diener des Allerbarmers sind diejenigen, die sanftmütig auf der Erde schreiten; und wenn die Unwissenden sie anreden, sprechen sie friedlich (zu ihnen)” (Koran 25:63). Auf diese Art können Muslime, was Güte gegenüber der Natur angeht, für andere ein Beispiel setzen.
Wie sehen Sie als gebürtiger Bangladeschi die Zukunft ihres Geburtslands angesichts der globalen Umweltzerstörung?
Quadir: Die Situation in Bangladesch ist wirklich schlimm, hauptsächlich aus demselben Grund, aus dem sie auch in den meisten anderen Entwicklungsländern, ob muslimisch oder nicht, schlimm ist. So wie die meisten sogenannten "Entwicklungsländer" versucht Bangladesch Anschluss an das Entwicklungsmodell zu finden, welches der Westen weltweit so erfolgreich propagiert hat. Gleichzeitig verbrauchen viele der nicht-islamischen Länder, die in Sachen Emissionsreduzierung oder Recycling mehr tun, weitaus mehr fossile Brennstoffe, welche die Erde weiter verschmutzen. Der CO2-Fußabdruck von Ländern wie Bangladesch ist allerdings im Vergleich zu jenem von England, Frankreich, Deutschland oder Japan zu vernachlässigen.
Dennoch müssen die Bangladeschis verstehen, dass die momentane Entwicklung das Leben ihrer Kinder und das der nachfolgenden Generationen ernsthaft aufs Spiel setzt. Jede Nation sollte kritisch hinterfragen, was es wirklich heißt, "entwickelt" zu sein. Die Menschen müssen entschiedener handeln und ein Beispiel für andere sein. Sie sollten regelmäßige Diskussionen über die Ursachen und Konsequenzen der Umweltkrise führen und hierbei auch das Potenzial und Wissen von Schulen, Medien und Moscheen nutzen.
Das Interview führte Marian Brehmer.
© Qantara.de 2020
Tarik Quadir arbeitet als Lehrbeauftragter an der Fakultät für Philosophie der Necemettin Erbakan Universität in Konya, Türkei. Quadirs Forschungsgebiete umfassen den Sufismus, Geschichte der Wissenschaft, islamische Philosophie, Peacemaking und südasiatische Religionen. Er ist der Autor des Buches "Traditionell islamischer Umweltschutz: die Vision von Seyyed Hossein Nasr".