Verflogene Euphorie

Im Vorfeld der Parlamentswahl am 26. Oktober haben sich zwar bereits mehr als fünf Millionen Tunesier als Wähler registrieren lassen, deutlich mehr als 2011. Beobachter rechnen dennoch mit einer niedrigen Wahlbeteiligung – aus Frust darüber, dass sich die Situation der meisten Bürger drei Jahre nach dem Umbruch kaum verbessert hat. Von Sarah Mersch aus Tunis

Von Sarah Mersch

Rechtecke sind an die Mauern im ganzen Land gesprüht, fein säuberlich durchnummeriert. Hier darf jede Partei, die antritt, im A-4-Format Kandidaten und Programme bewerben. Doch viele Rechtecke sind wenige Tage vor den Parlamentswahlen am 26. Oktober 2014 noch leer – dabei werben mehr als 1.300 Parteien und Listen in 33 Wahlbezirken um die Stimmen der Wähler und um einen der 217 Sitze im Parlament. Doch viele Kleinparteien und unabhängige Listen können offenbar weder Geld noch Leute zum Plakatieren aufbringen.

Hazem steht ratlos vor den Listen der Parteien, die an der Mauer der Grundschule in einem Vorort von Tunis kleben. Der 27-jährige Ingenieur hat sich zwar für die Wahlen registriert, aber seine Stimme wird er wahrscheinlich nicht abgeben. "Die letzte Regierung war schlecht, für die werde ich nicht stimmen." Die anderen Parteien kenne er fast alle nicht. 51 sind es in seinem Wahlbezirk, 69 sogar in Kasserine, dem Bezirk mit der höchsten Listen-Anzahl.

Werben um die Stimmen der Unentschlossenen

Dort, an der algerischen Grenze, ist die Stimmung ähnlich. Begeisterung bleibt aus, die Region leidet unter hoher Arbeitslosigkeit und andauernden bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und mutmaßlichen Terroristen auf dem Chaambi-Berg, der sich eindrucksvoll neben der Kleinstadt erhebt.

Wahlplakate im tunesischen Douz; Foto: Sarah Mersch
Stadt der leeren Vierecke und Versprechen: Wahlplakate im tunesischen Douz, im Oktober 2014. Drei Jahre nach dem Umbruch im "Mutterland der Arabellion" wird zum ersten Mal ein reguläres Parlament gewählt – doch die Begeisterung in der Bevölkerung ist merklich abgeflaut.

Angst habe sie keine, sagt Afef, die gerade ihren Abschluss in Buchhaltung macht. Nach mehr als einem Jahr seien Gewehrfeuer und Bombardements in der Ferne Teil des Alltags geworden. Sie hoffe, dass die Wahlen in der Region etwas ändern werden. "Aber die Mentalitäten können einen manchmal wahnsinnig machen. Das dauert 15, 20 Jahre, bis sich so etwas ändert." Deshalb sei es vor allem wichtig, dass die jungen Leute etwas für ihre Region täten.

Wirtschaft, Sicherheit, Arbeitsplätze – darum geht es den meisten Tunesiern in erster Linie, und das versprechen auch die Wahlprogramme der verschiedenen Listen. Wie diese Versprechen jedoch umgesetzt und finanziert werden sollen, darin bleiben die Parteien meistens schwammig. Umfragen dürfen derzeit nicht veröffentlicht werden, so dass Prognosen über den Wahlausgang zunehmend schwierig werden.

In den letzten Wochen sind einige Akteure auf die politischen Bühne getreten, die vorher kaum eine Rolle gespielt haben, den Ausgang der Wahlen jedoch deutlich beeinflussen könnten und die Bipolarisation der tunesischen Parteienszene aufbrechen. Die beiden großen Parteien Nidaa Tounes und Ennahda setzen unterdessen auf ihre solide Basis und werben um die Stimmen der Unentschlossene.

Den Kuchen aufteilen?

Ennahdha war 2011 als stärkste Kraft aus den Wahlen zur Verfassungsversammlung hervorgegangen, musste jedoch schnell erkennen, dass Regierungsverantwortung und politische Krisen negative Imagefolgen für sie haben. Trotz einiger Kratzer ihrer Außendarstellung verfügt die Partei landesweit über eine starke Basis, so dass sie den Wegfall der enttäuschten Wähler der Islamisten von 2011 verkraften wird und mit mindestens einem Fünftel der Stimmen rechnen kann.

Die zweite große Kraft, Nidaa Tounes ("Der Ruf Tunesiens"), ist ein Neuling auf der politischen Bühne Tunesiens. 2012 vom inzwischen 87 Jahre alten Beji Caid Essebsi gegründet, positioniert sie sich als säkulare Alternative zu den Islamisten der Ennahda.

Die Partei des früheren Ministers unter Habib Bourguiba und Übergangs-Premierministers 2011 musste jedoch herbe Kritik einstecken, als Mohamed Ghariani 2013 in die Partei eintrat. Der letzte Generalsekretär der inzwischen aufgelösten RCD, der Partei des gestürzten Machthabers Zine El Abidine Ben Alis, ziehen hinter den Kulissen die Strippen, berichten diejenigen, die Nidaa Tounes inzwischen wieder verlassen haben. Sie befürchten einen zu großen Einfluss der alten Garde auf Nidaa Tounes.

Beji Caid Essebsi Tunesien; Foto: picture-alliance/dpa
Hoffnungsträger der säkularen Kräfte: Im Jahr 2012 vom inzwischen 87 Jahre alten Beji Caid Essebsi gegründet, positioniert sich Nidaa Tounes als weltlich ausgerichtete Alternative zu den Islamisten von Ennahda.

Während Nidaa Tounes Essebsi als Präsidentschaftskandidaten ins Rennen schickt, konzentriert sich Ennahda aufs Parlament. Dass sich die beiden Parteien, die sich in der Öffentlichkeit als so gegensätzlich positionieren, am Ende die Macht aufteilen, würde in Tunesien kaum noch jemanden überraschen.

Die beiden kleinen Koalitionspartner in der ehemaligen Regierungstroika, der Kongress für die Republik von Präsident Moncef Marzouki und Ettakatol, haben über die letzten Jahre kontinuierlich Mitglieder und Abgeordnete verloren. Die Volksfront, ein Zusammenschluss linker und kommunistischer Parteien, hatte 2013 ein Umfragehoch, nachdem zwei prominente Mitglieder, Chokri Belaid und Mohamed Brahmi ermordet wurden.

Ein Jahr später scheint allerdings auch dieses Bündnis von der politischen Realität eingeholt worden zu sein und dürfte allenfalls in den Arbeiterhochburgen im Südwesten des Landes einige Sitze sicher haben.

Bleiben die großen Unbekannten, die den etablierten Parteien einige Bauchschmerzen bereiten. Slim Riahi, Geschäftsmann mit undurchsichtigen Ressourcen und Präsident des "Club Africain", eines der größten Fußballvereine des Landes, tritt an, Präsident Tunesien zu werden. Seine Partei, die "Freie Patriotische Union" geht vor allen in den Armenvierteln der Hauptstadt Klinken putzen und hofft, dass der bekannte Parteichef auch für ein gutes Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen sorgen wird.

Totgesagte leben länger

Unter großem Medieninteresse sind außerdem mehrere Politiker des alten Regimes in die Öffentlichkeit zurückgekehrt. Allein fünf ehemalige Minister Ben Alis treten zu den Präsidentschaftswahlen an. Und es ist ausgerechnet ihre Regierungserfahrung, die ihnen und ihren Parteien zum Erfolg verhelfen könnte. Denn während positive Auswirkungen des Umbruchs 2011 auf sich warten lassen und die Frustration vieler Tunesier wächst, wünschen sich nicht wenige jemanden zurück, "der weiß wie es geht".

Natürlich sei die alte Garde korrupt gewesen, gibt Hazem zu bedenken. Aber vielleicht brauche Tunesien ja doch erneut einen starken Mann. Nicht selten überlagern daher in diesen Tagen Diskussionen über Köpfe die über Programme, selbst wenn der Präsident mit der im Januar 2014 verabschiedeten Verfassung wesentlich weniger Rechte haben wird als früher.

Trotzdem steht die Parlamentswahl im Schatten der Präsidentschaftswahl, die am 23. November stattfinden wird. Dann wird die Auswahl mit 27 Kandidaten vergleichsweise überschaubar sein.

Sarah Mersch

© Qantara.de 2014