Katar macht Kehraus in seinen Schulbüchern

Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2022 setzt Katar zum Großreinemachen in seinem Schulwesen an. Damit folgt die Golfmonarchie dem in der islamischen Welt bekannten Muster, sich bei "weichen" Themen reformfreudig zu geben, um von gravierenden Missständen in anderen Bereichen abzulenken. Von James M. Dorsey

Katar entfernt seit kurzem rassistische, herabsetzende und die arabische Überlegenheit betonende Inhalte aus seinen Schulbüchern. Gleiches gilt für die Verherrlichung des Märtyrertums oder des gewaltsamen Dschihad. Das geht zumindest aus einer jüngst veröffentlichten Studie hervor.

Als Ausrichter der Fußballweltmeisterschaft 2022 will Katar mit der Überarbeitung der Schulbücher vor der Großveranstaltung seine Chancen als Bannerträger des gemäßigten Islam im Wettlauf mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Indonesien verbessern.

Auch wenn Fachleute noch Luft nach oben sehen, haben diese Länder ihre Schulbücher bereits gründlich überarbeitet. Im Unterschied zu ihren Konkurrenten um religiöse Soft Power und Führung in der muslimischen Welt – wie der Türkei und Iran.

Die Bemühungen Katars um eine Bereinigung der Schulbücher sind im Zusammenhang mit der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft zu sehen, die ein Schlaglicht auf die problematische Menschenrechtslage des Landes und das System der Wanderarbeiter wirft.

Kritiker räumen ein, dass Katar zwar mittlerweile die rechtliche Stellung der Arbeiter deutlich verbessert habe, aber die Umsetzung in die Praxis lasse noch zu wünschen übrig.

"Verbesserungen sind eine angenehme Überraschung"

 

Das Institute for Monitoring Peace and Cultural Tolerance in School Education (IMPACT-se) kommt in seinem 85-seitigen Bericht zu dem Ergebnis, dass "in die neuen Schulbücher für das erste Halbjahr des aktuellen Schuljahres erhebliche Verbesserungen eingeflossen sind".

Bei IMPACT-se handelt es sich um eine israelische Nichtregierungsorganisation, die das Bildungswesen und insbesondere Schulbücher in zahlreichen Ländern erforscht und analysiert, um eine Radikalisierung von Schülerinnen und Schülern zu verhindern. Im Vorwort zu dem Bericht schreibt David A. Weinberg, Washington Director for International Affairs der Anti-Defamation League (ADL), Katar habe "noch einen weiten Weg zurückzulegen, was die Entfernung hetzerischer Inhalte und die konsequente Anleitung zu Toleranz angeht. Doch die in den beiden zurückliegenden Schuljahren in Katar vorgenommenen Verbesserungen sind durchaus eine angenehme Überraschung".

Zusammenstellung von katarischen Schulbüchern für 2021-2022; Quelle: https://mideastsoccer.blogspot.com
Katar entfernt seit kurzem rassistische, herabsetzende und die arabische Überlegenheit betonende Inhalte aus seinen Schulbüchern. Gleiches gilt für die Verherrlichung des Märtyrertums oder des gewaltsamen Dschihad. Das geht zumindest aus einer jüngst veröffentlichten Studie hervor. Die Bemühungen Katars um eine Bereinigung der Schulbücher sind im Zusammenhang mit der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft zu sehen, die ein Schlaglicht auf die problematische Menschenrechtslage des Landes und das System der Wanderarbeiter wirft

Weinberg befasst sich in seinen Veröffentlichungen vor allem mit staatlich geförderter antisemitischer Hetze im Nahen Osten. Zu den neuen Schulbüchern in Katar merkt er an, dass Juden dort nicht mehr als "Verräter" dargestellt werden, ganz im Gegensatz zu noch heute verwendeten Lehrbüchern in Kuwait und Ägypten.

IMPACT-se kann eine solide Erfolgsbilanz bei der Ermittlung von Trends und problematischen Inhalten in Schulbüchern vorweisen. Im Bericht über Katar begibt sich das Institut jedoch auf ein heikles politisches Terrain, wenn es alle antiamerikanischen und antiisraelischen Texte im Nahen Osten mit Rassismus und Überlegenheitsdenken gleichsetzt. Auch folgt der Bericht der Linie der israelischen Regierung, indem er die Grenzen zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an der Politik Israels verwischt.

Die Idee von Gleichheit und Toleranz

 

Der Bericht zu Katar ist aber selbst dann bemerkenswert, wenn man einmal von der Rivalität um Soft Power und Führung in der muslimischen Welt absieht.

Die längst überfällige Überarbeitung der Schulbücher in Katar sensibilisiert die Bevölkerung für Ideen von Gleichheit und Toleranz. Sie trägt auch dazu bei, sich von einem erdrückenden und ultrakonservativen gesellschaftlichen Kodex zu lösen, der der wirtschaftlichen Diversifizierung und Schaffung neuer Arbeitsplätze im Wege steht und der es jungen Menschen erschwert, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen und Religion individueller und weniger ritualisiert zu erfahren.Schul- und Lehrbücher sind ein Gradmesser für religiöse Toleranz in einem Land. Der Druck regionaler Organisationen, entsprechende Standards für die Lehrbücher zu verabschieden, ein anderer. In diesem Punkt schwächeln im Nahen Osten die Rivalen um religiöse Soft Power.

Länder wie die Türkei und Kuwait halten an rassistischen, intoleranten und arabische Überlegenheit betonenden Inhalten fest oder haben diese gar verschärft. Doch bislang hat keiner dieser Anwärter auf religiöse Führungsrulle in der Region auch nur versucht, seinen Einfluss für eine Überprüfung von Schulbüchern über regionale Organisationen geltend zu machen. Solche Organisationen sind beispielsweise der Golf-Kooperationsrat (GKR), der die sechs Golfmonarchien umfasst, oder die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ), in der 57 Staaten zusammengeschlossen sind.

Ebenfalls versagt haben diese Organisationen auch darin, die Entfernung diskriminierender, antisemitischer sowie antipluralistischer Formulierungen und Inhalte in Lehrbüchern zum Standard zu machen.

Allerdings appellierte die Erklärung von Marrakesch 2016, die das Recht von Minderheiten in muslimischen Mehrheitsgesellschaften bekräftigte, an "muslimische Bildungseinrichtungen und Behörden, eine mutige Revision der Lehrpläne durchzuführen und alle Themen zu streichen, die zu Aggression oder Extremismus aufrufen, die zu Krieg und Chaos führen und unsere gemeinsamen Gesellschaften zerstören".

Die Erklärung von Marrakesch 2016; Quelle: marrakeshdeclaration.org
Regionale Standards auf der Grundlage der Erklärung von Marrakesch von 2016 würden dazu beitragen, dass Staaten für Inhalte, die als bigott oder rassistisch gelten, zur Rechenschaft gezogen werden. Doch das Konzept der Religionsfreiheit ist nach wie vor tabu. "Religionsfreiheit bezieht sich nicht nur auf die kollektiven Rechte religiöser Minderheiten, sie bezieht sich auch auf das Recht des Einzelnen, seine Religion zu kritisieren, seine Religion zu wechseln oder sich ganz von seinem Glauben abzuwenden", moniert die auf Menschenrechte spezialisierte Wissenschaftlerin Marie Juul Petersen gemeinsam mit ihrem Kollegen Osama Arhb Moftah

Mitorganisatoren waren der marokkanische König Mohammed VI. und Abdallah bin Bayyah, ein von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützter marokkanischer Islamwissenschaftler. An der Konferenz nahmen Hunderte von Regierungsvertretern, Religionsführern und Wissenschaftlern teil, deren Namen nicht veröffentlicht wurden.

Die auf Menschenrechte spezialisierte Wissenschaftlerin Marie Juul Petersen monierte damls allerdings gemeinsam mit ihrem Kollegen Osama Arhb Moftah die fehlenden Mechanismen zur Umsetzung und Weiterverfolgung der erklärten Ziele. Auch wiesen beide darauf hin, dass die Erklärung den Grundsatz der Religionsfreiheit nicht aufgreife.

"Religionsfreiheit bezieht sich nicht nur auf die kollektiven Rechte religiöser Minderheiten, auch wenn dies ein wichtiger Aspekt ist. Sie bezieht sich auch auf das Recht des Einzelnen, seine Religion zu kritisieren, seine Religion zu wechseln oder sich ganz von seinem Glauben abzuwenden. Diese Rechte spricht die Erklärung von Marrakesch 2016 nicht an", so Petersen und Moftah.

Der Druck auf Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, Schul- und Lehrbücher zu überarbeiten, geht folglich vom Westen aus und steht im Zusammenhang mit geopolitischen Zielen, dem Wettbewerb um religiöse Soft Power und den Bemühungen um Reform und Diversifizierung der Volkswirtschaften. Genau dies ist es, was Katar, Saudi-Arabien und die Emirate dazu veranlasst, die Schulbücher zu revidieren.

Keine Rechenschaftspflicht, weil regionale Standards fehlen

 

Fehlende Instrumente zur Durchsetzung dieser Ziele und das Versäumnis regionaler Organisationen, wie des Golf-Kooperationsrats oder der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, entsprehende Standards zu setzen, führen dazu, dass Staaten wie Kuwait bisher nicht für rassistische und fanatische Inhalte in Schulbüchern zur Rechenschaft gezogen werden.

So ist beispielsweise eines der erklärten Ziele eines kuwaitischen Schulbuchs für islamische Erziehung in der achten Klasse, Schülerinnen und Schülern folgende Inhalte zu vermitteln: "Die Feindschaft der Juden gegenüber dem Islam und den Muslimen ist alt und tief verwurzelt" und weiter "Schüren von Zwietracht, Vertragsbruch und Bösartigkeit zählen zu den Charaktereigenschaften der Juden".

Das Schulbuch befürwortet den Boykott jüdischer Produkte. Das Jenseits komme nur "mit dem Sieg der Muslime über die Juden", wenn "die Muslime die Juden bekämpfen und töten", auch diejenigen, die "sich hinter Felsen und Bäumen verstecken".

Doch nicht nur Juden stehen im Visier kuwaitischer Schulbücher, sondern auch Christen und Bahai. Die Verfolgung der Ahmadiyya in Pakistan wird in einem Schulbuch über "Islamische Angelegenheiten" für die zwölfte Klasse damit gerechtfertigt, dass "die englische Regierung diesen Glauben begrüßt...und führende Köpfe für ihre eigenen Geheimdienste rekrutiert". Im Lehrbuch ist das Bild eines Angehörigen der Ahmadiyya zu sehen, der einen Juden umarmt. Dazu muss man wissen, dass sich die Zentrale der Ahmadiyya, einer messianischen Bewegung aus dem 19. Jahrhundert, wegen der schwierigen Lage in Pakistan seit 1984 in London befindet.

Skyline von Doha mit einem überdimensionalen Bild von Emir Tamim bin Hamad al-Thani; Foto: picture-alliance
Zweifelhafte Motivation? Die Initiativen von Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung wie Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Überarbeitung ihrer Schulbücher werden letztlich durch den Druck des Westens sowie durch ihre eigenen innenpolitischen Ziele ausgelöst – geopolitische Ziele, den Wettbewerb um religiöse "Soft Power", ganz zu schweigen von Reformen und Diversifizierung der Wirtschaft.

Fairerweise sei gesagt, dass das Lehrbuch auch ein Bild aus dem Jahr 1993 zeigt, auf dem sich der damalige israelische Premierminister Jitzchak Rabin und der Vorsitzende der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Jassir Arafat auf dem Rasen des Weißen Hauses in Washington die Hand geben. Weiterhin nimmt es Bezug auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, legt ein formelhaftes Bekenntnis zur Religionsfreiheit ab und erklärt, "alle Menschen haben die gleiche Würde und genießen ohne Diskriminierung die gleichen Rechte auf Schutz durch das Gesetz".

Das Versäumnis, Standards zu setzen, die Kuwait, die Türkei und andere Länder zur Überarbeitung ihrer Schulbücher veranlassen könnten, ist gleichzeitig eine vertane Chance für Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar, ihren Anspruch auf Führung in der islamischen Welt zu bekräftigen und Reformen in Religionserziehung und Rechtsprechung voranzubringen.

Doch selbst wenn Standards aus Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar von regionalen Gruppierungen übernommen würden, bliebe der Anspruch auf eine gemäßigte Haltung problematisch. Denn schließlich legen diese Staaten das islamische Recht als Verpflichtung zum absoluten Gehorsam gegenüber dem Herrscher aus. Diese Auffassung steht in krassem Gegensatz zur gleichzeitig vertretenen religiösen Toleranz.

Politische Einstellungen entstehen im Schulunterricht

 

Als der Nahostexperte Ryan Bohl vor zehn Jahren in einer Schule in den Emiraten unterrichtete, spielte Religion im Vergleich zur nationalen Identität und Autorität noch eine untergeordnete Rolle.

Als einer von mehreren westlichen Lehrkräften, die von den Vereinigten Arabischen Emiraten angeworben wurden, um arabische Lehrkräfte zu ersetzen, die als Sympathisanten der Muslimbruderschaft galten, beschrieb Bohl den Unterricht als "autokratische Veranstaltung, die das Prinzip des Herrschers und der Beherrschten widerspiegelt".

"Im Unterricht werden politische Einstellungen vermittelt und verstärkt. Wenn jemand von der vorgegebenen Linie abweicht, was Kinder nun mal tun, wird die Einstellung per Zwang durchgesetzt. So lernen Kinder die Folgen kennen, lange bevor sie zur politischen Bedrohung des Regimes oder zu Aktivisten werden können. Unter dem Strich geht es um Abschreckung", so Bohl.

Religion mag in den Schulbüchern von Katar und Saudi-Arabien eine größere Bedeutung haben. Jungen Menschen Gehorsam beizubringen, ist jedoch auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten Grundbestandteil der öffentlichen Bildung.

Als Bohl seine Erfahrungen in einer öffentlichen Schule in den Emiraten mit seiner Zeit an einer Privatschule in Katar vergleicht, kommt er zu dem Schluss, dass "Katarer keine Kritik an ihrem Land üben dürfen, aber dafür umso mehr bereit sind, ihre Nachbarn zu kritisieren".

James M. Dorsey

© Qantara.de 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers

Dr. James M. Dorsey ist ein preisgekrönter Journalist und Wissenschaftler, Senior Fellow am Middle East Institute der National University of Singapore und Autor der Kolumne und des Blogs The Turbulent World of Middle East Soccer.