Dialog in der Sackgasse
In den Wochen vor dem Attentat auf den 34-jährigen Industrieminister Pierre Gemayel wurde im ganzen Libanon eine Plakataktion gestartet mit dem Slogan "Wir werden nicht vergessen". Über elf Monate nach dem letzten Anschlag sollte allen Opfern der politischen Morde der vergangenen zwei Jahre auf großen Plakatwänden gedacht werden.
Die fünf getöteten Persönlichkeiten waren Teil der Bewegung des 14. März 2005, die sich nach dem Mord an dem ehemaligen Ministerpräsidenten Hariri gebildet hatte. Dank ihrer Proteste wurde unter anderem der Präsenz der syrischen Armee im Libanon ein Ende gesetzt.
Mit der Plakat-Aktion wollten die Initiatoren dem Ruf nach der Aufklärung des Mordes und einer gerechten Strafe durch den internationalen Gerichtshof Nachdruck verleihen. Als die Erinnerung an die blutigen Stationen der letzten zwei Jahre verblasste, wurde ein Tag vor dem 22. November, dem libanesischen Tag der Unabhängigkeit, der maronitische Christ Pierre Gemayel Opfer eines neuen Anschlags.
Die politische Realität ließ die Plakataktion obsolet erscheinen. Anlässlich der Beerdigung Gemayels fanden sich wieder mehre Hunderttausende am Platz der Märtyrer ein, um zu trauern, aber auch, um ihren politischen Forderungen Ausdruck zu verleihen. Dabei wurde deutlich, dass die vergangenen Tage im Libanon für viele ein "Déjà-vu "-Erlebnis darstellten.
Massenrücktritte als politisches Druckmittel
Vor dem Attentat war die politische Situation im Zedernstaat von einer anhaltenden Regierungskrise bestimmt. Die Opposition, angeführt von der Hisbollah und unterstützt von der christlichen "Freien Patriotischen Bewegung" von General Michel Aoun, hatte mit dem Rücktritt von sechs Ministern die nationalen Beratungen scheitern lassen.
Am Tag des Rücktritts wollte Ministerpräsident Fuad Siniora den Entwurf für den internationalen Gerichtshof zur Aufklärung des Mordes an Ex-Premier Rafik al-Hariri verabschieden lassen. Die Opposition, die auch nach ihrer größten Demonstration im März 2005 die Bewegung des 8. März genannt wird, blockierte dies. ´
Eine schwere Legitimationskrise der Regierung war die Folge. Die Opposition fordert eine Sperrminderheit, bzw. ein Drittel der Ministerposten, die ihr mehr Teilhabe an den Entscheidungen der Regierung sichern soll.
Die Zeit des Dialogs scheint damit zu Ende zu gehen. Für die Politiker im Libanon, aber auch für die Bürgergesellschaft jenseits der beiden monolithischen Blöcke, ist die Luft dünn geworden. Demonstrative Machtbekundungen und unversöhnliche Standpunkte werden immer deutlicher vertreten.
Noch am Abend der Trauerveranstaltung blockierten Schiiten in der südlichen Vorstadt die Flughafenstraße. Sie demonstrierten gegen die Verbalangriffe auf Hasan Nasrallah während der Trauerfeierlichkeiten.
Die Stimmung ist angespannt, politische Entscheidungen werden nur noch in Hinterzimmern getroffen – eine öffentliche Diskussion scheint damit heute unmöglich. Stattdessen hat eine hektische "Besuchsdiplomatie" eingesetzt, um die Krise zu entschärfen.
Gegenseitiges Misstrauen
Dabei hatte die Regierung zuvor den Konflikt noch weiter angeheizt: Ohne die fünf schiitischen Minister und den Lahoud-nahe stehenden orthodoxen Minister tagte das Kabinett und ratifizierte den Entwurf des internationalen Gerichtshofs zum Mord an Rafik al-Hariri.
"Die Entscheidung und die Sitzung sind verfassungswidrig", erklärte Parlamentssprecher Nabih Berri. In einem gemeinsamen Kommunique bekräftigten Nasrallah und Berri ihre positive Haltung zum internationalen Gerichtshof.
Dennoch formulierte Saad Hariri seine Bedenken: "Genau wie die Opposition ihre Zweifel an unserer Haltung zu den Waffen des Widerstands hat, so haben wir kein Vertrauen in die Haltung der Opposition zum internationalen Gerichtshof."
Der Forderung der Bewegung des 14. März, die Aufklärung der politischen Morde im Rahmen des Mandates der UNO-Kommission vornehmen zu lassen, hatte schon nach dem Attentat gegen Jubran Tueni im Dezember 2005 zu einer vorübergehenden Amtsniederlegung der schiitischen Minister geführt. Die Opposition ist bereit, den Konflikt jetzt auch auf der Straße auszutragen.
Nicht nur in den westlichen Medien äußern Journalisten ihre Furcht vor einem neuen Bürgerkrieg, auch der jordanische Königs Abdullah spricht von einem solchem Szenario.
Diese Furcht scheint überzogen, denn weder haben die unterschiedlichen Parteien ausreichend Waffen oder eine militärische Infrastruktur, noch gibt es den politischen Willen zu einer solchen Eskalation. Es ist eine politische und keine systemische Krise. Auch verläuft keine konfessionelle Konfliktlinie zwischen den beiden Lagern.
Ausgeschlossene Zivilgesellschaft
Zu einer außerparlamentarischen Zuspitzung der Auseinandersetzung wird es aber bestimmt noch kommen. Auf der Strecke bleibt die geregelte Konfliktaustragung durch die Zivilgesellschaft. Selbst ob der jüngste Regierungsbeschluss verfassungskonform war, ist nicht eindeutig geklärt.
Auch die selbst ernannten Experten der libanesischen Verfassung kommen zu recht unterschiedlichen Einschätzungen und Bewertungen: Viele glauben, dass erst die Verabschiedung des Entwurfs zum internationalen Gerichtshof durch das von der Bewegung des 14. März kontrollierte Parlament für Entspannung sorgen wird.
Erst dann könnten politische Kompromisse und pluralistische Debatten jenseits der Diskussion um den Gerichtshof und um eine erweiterte Teilhabe der Opposition in der Regierung möglich werden.
Erst dann kann die Rechnung aufgehen, die auf einem Plakat zum Tag der Unabhängigkeit zu lesen war: 8 + 14 = 22. Die Gruppe 8. März plus die Gruppe 14. März machen den 22. November aus – die Unabhängigkeit des Libanons. Solange jedoch die Entscheidung über den internationalen Gerichtshof auf sich warten lässt, scheitert der Dialog zwischen den beiden Lagern, die Beteiligung der Opposition an der Regierung bleibt blockiert.
Bernhard Hillenkamp
© Qantara.de 2006
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