Die Macht des Wortes
Ein Bollwerk gegen die türkische Staatsmacht stellt man sich anders vor. Ragıp Zarakolu ist ein kleiner Mann mit krausem, grauen Haar, Vollbart und dünner Stimme. Zarakolu strahlt Ruhe und Gemütlichkeit aus.
Schnell fällt auf, dass er gerne lacht. Auch wenn er über Dinge spricht, bei denen einem das Lachen schnell vergeht. So zum Beispiel wenn er darüber redet, dass auf der Verbotsliste der türkischen Literatur mittlerweile 20.000 Titel stehen, weil die jeweils neuen Regierungen immer neue Titel hinzufügen, alte aber nicht löschen. "Die Liste liest sich wie die türkische Literaturgeschichte", meint Zarakolu lapidar.
Im Visier der türkischen Behörden
Seinen Humor konnte er sich auch nach sechs Monaten Haft im Hochsicherheitsgefängnis Kandıra bewahren. Im Frühling 2012 wurde er entlassen. Er war im Frühling des Vorjahres auf seinem Nachhauseweg im Rahmen des sogenannten KCK-Verfahrens festgenommen worden: Die Kammer für schwere Straftaten in Istanbul hatte gegen ihn und andere Journalisten sowie etliche Juristen, Politiker, Studenten und Aktivisten wegen vermeintlicher Mitwirkung an terroristischen Aktivitäten einen Haftbefehl erlassen.
Der Grund: Zarakolu hatte bei der "Politischen Akademie" der "Partei für Frieden und Demokratie" (BDP) einen Vortrag gehalten. Unter den Inhaftierten waren auch sein Sohn Deniz und die Politikwissenschaftlerin Büşra Ersanlı. Doch bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis konnte Zarakolu den Journalisten in dem für ihn typisch humorvollen Tonfall sagen: "Die wahren politischen Akademien in der Türkei sind die Gefängnisse".
Seine bisherigen Erfahrungen fasst Zarakolu in einem Artikel zusammen: "Während meiner 60-jährigen Berufserfahrung habe ich nichts anderes erlebt als Druck, Verhör, Verfahren, Verurteilung, Exil und Todesdrohungen". Über 70 Mal wurde er bislang angeklagt, saß mehrmals im Gefängnis. Die Male zuvor musste er jedoch nicht als vermeintlicher Terrorist einsitzen, sondern aufgrund seiner Zeitungsartikel oder der Bücher, die er in seinem Verlag "Belge" (Dokument) veröffentlicht.
Gegen jede Art von Tabu
Seit 1977 publiziert der Verlag im Istanbuler Stadtteil Sultanahmet, den Zarakolu gemeinsam mit seiner 2002 verstorbenen Frau Ayşenur gründet hatte, Bücher zu Politik, Wirtschaft, Philosophie und zur kosmopolitischen Vielfalt der Region. Selbsterklärtes Ziel des Verlags ist es, "gegen jede Art von Tabu anzugehen".
Seine schwerste Zeit erlebte der Verlag zweifelsohne während der Militärjunta unter General Kenan Evren, als Tausende Bücher verbrannt oder beseitigt wurden. Um die 50 Verlage und 500 Buchhandlungen mussten damals schließen. Für Redakteure sozialistischer und pro-kurdischer Blätter wurden absurde Haftstrafen von insgesamt über 1.000 Jahren verhängt.
Doch Zarakolu wollte seinen Verlag nicht schließen, solange man ihn nicht dazu zwang. So überlebte "Belge" und ist damit der einzige linke Verlag, der vor dem Putsch gegründet wurde und noch heute existiert. Während der Junta-Jahre musste er zwar auf die Veröffentlichung marxistischer Klassiker verzichten, vertrieb jedoch weiterhin marxistische politische und wirtschaftliche Analysen.
Im Anschluss an diese schwierige Zeit begann der Verlag neben akademischen und geisteswissenschaftlichen Büchern eine Reihe mit Gedichten, Kurzgeschichten und Romanen politischer Gefangener herauszugeben. Es folgten Übersetzungen aus dem Griechischen, Bücher über den armenischen Völkermord, zu Juden und Kurden.
Die Allmacht des "tiefen Staates"
Gegen bestimmte Regierungen zu opponieren, wäre Zarakolu zu kurzsichtig. "Parteien oder Machtspiele religiöser Gruppen sind nicht meine Sache. Ich habe ein Problem mit dem Staat, die anderen kommen und gehen. In diesem Land sind die Regierungen nur für eine gewisse Zeit zu Besuch. Dann gibt es hier aber noch die Hausherren, die von manchen auch als 'tiefer Staat' bezeichnet werden, erklärt Zarakolu, der 2012 für den Friedensnobelpreis nominiert wurde.
"Zwar wird seit zehn Jahren über eine neue demokratische Verfassung diskutiert, man setzt sich immer mehr mit der Vergangenheit auseinander, doch noch immer wird die Wiedereröffnung der Schule für christliche Geistliche auf der Insel Heyebeli verhindert", kritisiert Zarakolu, der selbst auf Büyükada, einer anderen Prinzeninsel, geboren wurde, auf der seit jeher Muslime, Christen und Juden zusammen wohnten.
Seit der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 beobachtet Zarakolu ein Umdenken in der türkischen Gesellschaft, ein "Herausplatzen des Gewissens", wie er es nennt. "Die Reaktionen auf den Mord verblüffte vor allem die Staatsmacht, die damit nicht gerechnet hatte. Es war, als hätten sich alle Opfer des extremistischen, tyrannischen Staates mit dem Opfer solidarisieren. Reflexartig stürmten sie auf die Straßen und riefen: 'Wir alle sind Armenier, wir alle sind Hrant Dink!'."
Die kommenden Jahre sind für Zarakolu ein Prüfstein für die Türkei: 2015 jährt sich am 24. April zum 100. Mal die Vertreibung und Ermordung der Armenier in der Türkei.
"Die Türkei muss sich mit ihrer Geschichte und dem politischen System kritisch auseinandersetzen, nicht die Armenier, die entweder umgebracht wurden oder heute noch in Angst leben", so Zarakolu. "Die Türkei muss diesen Schritt machen, um sich damit aus ihrer Ehrlosigkeit zu befreien. Das Land sollte das im Sinne ihrer eigenen Bürger tun."
Ceyda Nurtsch
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de